Immer wieder die Frage nach dem „Westen”

Zwei kleine Jungen schauen von einem Hausdach auf Siedlungen im Westjordanland
Blick auf die Westbank: Israelische Siedlungen in Halhul, Juli 2025 (Foto: Picture Alliance/Middle East Images | M. Shawer)

Neue Publikationen über den Nahostkonflikt: Alena Jabarine erzählt von Ungleichheit und willkürlicher Gewalt in der Westbank. Omar El Akkad rechnet mit dem Westen ab. Und Gilbert Achcar analysiert die ideologischen Wurzeln von Hamas und Zionismus.

Von Elias Feroz

Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein Thema, das moralische Kategorien verwischt und Debatten stark auflädt. Wie lässt sich darüber schreiben, wenn jedes Wort sofort politisiert wird? Drei neue Bücher von sehr unterschiedlichen Autor:innen stellen sich genau dieser Herausforderung.

Die deutsch-palästinensische Journalistin Alena Jabarine erzählt in „Der letzte Himmel“ von ihrer Suche nach Palästina. Der kanadisch-ägyptische Reporter Omar El Akkad legt einen Essay über die moralische Korrumpiertheit des Westens vor. Und der französisch-libanesische Politologe Gilbert Achcar ordnet die Zerstörung Gazas historisch ein.

In „Der letzte Himmel: Meine Suche nach Palästina“ schildert Jabarine ihren Aufenthalt im Westjordanland zwischen 2020 und 2022. Sie beschreibt ein Palästina, das schon vor dem 7. Oktober 2023 von Vertreibungen, Landenteignungen und willkürlichen Verhaftungen geprägt war. Im Mittelpunkt stehen Stimmen von Palästinenser:innen, aber auch von Israelis, denen sie begegnet ist.

Drei Buchcover: einzelne Papierfetzen sind mit Bildern bedruckt vor gelbem Hintergrund, ein schwarzes Cover mit grüner Schrift, und ein Foto einer Menschenmenge in Gaza
(Buchcover: Ullstein/Matthes & Seitz/University of California Press)

Jabarines eigene Biografie rahmt die Reportage: Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater gehört zur palästinensischen Minderheit Israels, weshalb die Autorin – anders als ihre palästinensischen Gesprächspartner:innen – auch einen israelischen Pass hat.

Jabarine erzählt von ihren Freundinnen Farah und Balqees aus dem Westjordanland, die weder nach Tel Aviv reisen dürfen, wo Jabarine aufwuchs, noch ins palästinensische Ostjerusalem. Ihre eigenen Privilegien reflektiert die Autorin und macht so die strukturelle Ungleichheit sichtbar, die nicht nur zwischen Israelis und Palästinenser:innen, sondern auch unter Palästinenser:innen mit und ohne israelischen Pass herrscht.

Keine Scheu vor schwierigen Themen

Stark ist das Buch dort, wo Jabarine Themen Raum gibt, die vor allem in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Während die Forderung nach Freilassung der von Hamas entführten Geiseln zu Recht viel Aufmerksamkeit erfährt, bleibt die systematische Inhaftierung von Palästinenser:innen ohne Anklage – die sogenannte Administrativhaft – in der deutschen Debatte weitgehend unbeachtet.

Jabarine erzählt von Zayn und dem Aktivisten Issa Amro aus Hebron, die beide mehrfach ohne Verfahren inhaftiert worden sind – eine Praxis, die Israel routinemäßig anwendet.

Auch vor schwierigen Themen schreckt Jabarine nicht zurück, etwa wenn sie von ihrer Begegnung mit Randy berichtet, einem ehemaligen Mitglied der „Volksfront zur Befreiung Palästinas” (PFLP). Anfang der 2000er Jahre war Randy an der Planung von Selbstmordattentaten beteiligt und saß dafür zwanzig Jahre in israelischen Gefängnissen. Was bringt Menschen zu solcher Gewalt, fragt Jabarine, zunächst ohne zu urteilen. Sie hört zu und versucht in erster Linie zu verstehen.

So begegnet sie auch dem israelischen Soldaten Guy offen und fragt ihn direkt, warum er sich an der Besatzungspolitik beteiligt. Die Antworten, die das Buch auf Fragen wie diese gibt, sind meist vielschichtig, nicht immer eindeutig. Doch gerade darin, Widersprüche und Brüche sichtbar zu machen, liegt die Stärke von „Der letzte Himmel”.

Dass es ein sehr persönliches Werk ist, zeigt sich nicht nur darin, dass Freund:innen und Familie der Autorin zu Wort kommen. Im Vorwort erklärt Jabarine auch, sie wolle ihre Stimme als in Deutschland lebende Palästinenserin finden – eine Stimme, die in der öffentlichen Debatte oft entmenschlicht und delegitimiert wird.

Der Westen – eine Fiktion?

Formen der Dehumanisierung stehen auch im Zentrum von Omar El Akkads Essay „Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein“, der nun auf Deutsch erschienen ist. Anders als Jabarine hat El Akkad, so scheint es, seine Stimme bereits gefunden.

Er stellt keine Fragen, sondern klagt angesichts der Massentötung in Gaza die moralische Korrumpiertheit des westlichen Liberalismus an. Israels Vorgehen bezeichnet er als Völkermord.

Der „Westen“ ist für El Akkad eine „Fiktion moralischer Bequemlichkeit“. Er sei keine Ordnung universeller Werte, sondern verteile Zugehörigkeit nach Herkunft, Religion und Hautfarbe. Der Gazakrieg habe dies mehr als deutlich gemacht.

Dabei hat El Akkad als Reporter in Afghanistan bereits viel früher erlebt, wie nichtwestliche Menschen medial entmenschlicht werden. Doch erst später habe er erkannt, dass seine Überzeugung, im westlichen Liberalismus ein ideologisches Zuhause gefunden zu haben, ein Trugschluss war – wie er in einem Interview mit dem Jacobin-Magazin einräumte.

El Akkad beklagt die hohen Anforderungen an Menschen mit muslimischem oder arabischem Hintergrund. Egal wie klar er autoritäre Regime und Hamas verurteile, schreibt er, es reiche nie. Wer aus der „falschen“ Region stamme, stehe unter Generalverdacht.

Aber auch die Palästina-Rhetorik arabischer Regime nimmt El Akkad ins Visier: Lippenbekenntnisse statt echter Solidarität seien dort ebenfalls zu verzeichnen. Nur habe er sich darüber anders als im Falle des Westens nie Illusionen gemacht, wie er schreibt.

Gaza als Rückfall in die Barbarei

Anders als Jabarine und El Akkad verfolgt Gilbert Achcar, Professor an der School of Oriental and African Studies (SOAS) in London, einen historisch-analytischen Ansatz. „The Gaza Catastrophe: The Genocide in World-Historical Perspective“ vereint Texte des Autors von 1994 bis 2024 (das Nachwort wurde im Februar 2025 vervollständigt) und spiegelt seine jahrzehntelange Expertise. 

Achcar analysiert ausführlich die ideologischen Grundlagen des Zionismus sowie der Hamas. Der politische Zionismus, schreibt er, sei eine Reaktion auf den europäischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts gewesen, zugleich aber vom westlichen Kolonialismus inspiriert worden.

Die Ideologie der Hamas sei von islamischem Fundamentalismus und europäischem Antisemitismus geprägt und speise sich aus bestimmten Stellen in islamischen Quellen, die Achcar als „antijüdisch“ charakterisiert. Die spezifische Synthese radikaler Elemente sieht Achcar jedoch als Reaktion auf den Expansionsdrang des Zionismus.

Zugleich betont der Autor, dass eine freie Zukunft für die Palästinenser:innen ohne Einbeziehung der Israelis unmöglich sei. Den Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 wertet er nicht nur als Kriegsverbrechen, sondern als schwere strategische Fehlkalkulation. Angesichts der militärischen Übermacht Israels und einer extrem rechten Regierung sei deren brutale Reaktion absehbar gewesen.

Eine Einbeziehung Israels setze allerdings einen Wandel der israelischen Gesellschaft voraus, die ebenfalls aktuell rechtsgesinnt sei, schreibt Achcar. Wie dieser Wandel gelingen könnte, bleibt jedoch offen.

Einige Warnungen aus älteren Texten im Buch haben sich alarmierend bewahrheitet: So hatte Achcar einen US-Angriff auf den Iran unter Trump für weitaus wahrscheinlicher gehalten als unter einer möglichen Präsidentin Kamala Harris.

Schwächer ist das Buch dagegen, wo Achcar Mitglieder der israelischen Regierung als „Neonazis“ bezeichnet, ohne dies analytisch zu untermauern. Auch die Rolle der palästinensischen Autonomiebehörde wird leider nur am Rande behandelt.

Im Unterschied zu El Akkad, der den Westen als „Fiktion moralischer Bequemlichkeit“ aufgegeben zu haben scheint, erinnert Achcar an eine reale Selbstverpflichtung, die sich im internationalen Recht widerspiegelt. Diese Ordnung drohe angesichts des Völkermords in Gaza untergraben zu werden. 

„Das westliche Versprechen der Rechtsstaatlichkeit, das 1945 gegeben und 1990 erneuert wurde, ist gescheitert. Das Recht des Stärkeren herrscht”, schreibt er. „Möge dieser Rückfall in die Barbarei rückgängig gemacht werden, bevor er zu einer neuen globalen Katastrophe führt.“

„Der letzte Himmel. Meine Suche nach Palästina“
Alena Jabarine
384 Seiten
Ullstein Buchverlage, Mai 2025 

„Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein“
Omar El Akkad
206 Seiten
Matthes & Seitz Berlin, 2025

„Gaza Catastrophe. The Genocide in World-Historical Perspective”
Gilbert Achcar
256 Seiten (Englisch)
University of California Press, August 2025

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