Sarkozys "positive Laizität" als politischer Irrtum

Mit seinem Konzept einer "positiven Laizität" stellt Nicolas Sarkozy die strikte Trennung von Staat und Religion in Frage. Die Philosophin Catherine Kintzler erklärt, warum Laizität ein Garant für Religionsfreiheit ist.

Interview von Rachid Boutayeb

Frankreichs Staatspräsident will eine "positive Laizität", welche die Glaubensfreiheit schützt, aber die Religionen nicht als Gefahr betrachtet. Ist die Laizität "à la française" ein Dogma, das man relativieren soll?

Catherine Kintzler: Die Laizität ist keine Doktrin, an die man glauben oder nicht glauben kann. Man kann Muslim, Katholik oder Atheist und gleichzeitig Laizist sein. Die Laizität ist ein philosophisches Konzept, das im Vergleich zur Toleranz nicht fragt, wie man die Koexistenz zwischen den antagonistischen Freiheiten in einer Gesellschaft, welche die verschiedenen Gruppierungen reflektieren, schafft, sondern wie man einen "apriorischen Raum", der die Meinungsfreiheit jedem einzelnen möglich macht, konstruiert.

Dieser Raum ist die öffentliche Autorität, die das Recht produziert und anwendet. Und nur, weil die öffentliche Autorität sich ganz blind gegenüber den religiösen und den unreligiösen Formen des Glaubens verhält, genießt jeder einzelne die Meinungsfreiheit innerhalb der Zivilgesellschaft.

Dieses Prinzip ist von immenser Aktualität und antwortet auf die dringenden Fragen unserer Zeit. Und der Versuch, dieses Prinzip zu relativieren, wäre meiner Meinung nach ein politischer Irrtum.

Warum kann man sich nicht mit der einfachen Toleranz begnügen, wie es in vielen liberalen Ländern der Fall ist?

Kintzler: Es gibt historische Gründe, die Frankreich dazu gezwungen haben, ein laizistisches System zu entwickeln. Die Toleranz existiert in der Zivilgesellschaft: Aus diesem Blickwinkel gibt es keine Differenz. Hingegen erlaubt die Laizität das politische Gemeinwesen unabhängig von religiösen Referenzen zu gründen.

Die Laizität ist inkompatibel mit einer Staatsreligion. Dieses Prinzip ist blind für Glaubensrichtungen und Praktiken der Menschen. Man hat es hier mit einem Prinzip zu tun, das die Individualität begünstigt. Es existiert keine Zwangszugehörigkeit.

Glauben Sie, dass die Laizität dazu verurteilt ist, eine französische "Besonderheit" zu sein, oder denken Sie, dass das auch ein Exportmodel sein kann?

Kintzler: Die Laizität "à la française" war oftmals entstellt. Man hat versucht zu zeigen, dass es sich dabei um eine antireligiöse Haltung handelt. Aber sie ist das genaue Gegenteil. Das Prinzip der Laizität fördert die freie Meinungsäußerung in einer zivilen Gesellschaft.

Seit ein paar Jahren blicken die Länder, die sich bisher auf die Tradition der Toleranz verlassen haben – vor allem England, die Niederlande und die USA – mit Interesse nach Frankreich. Warum? Ein Regime, das sich allein auf die Werte der Toleranz verlässt, ist zu schwach, um einen fundamentalistischen Dogmatismus mit hegemonialem Anspruch zu konfrontieren.

Die Laizität ist dafür viel besser gerüstet. Sie gründet das politische Gemeinwesen auf eine Basis, die frei von jeglichem Glaubensbekenntnis ist.

Die Laizität widerspricht nicht der Religion. Sie widerspricht nur dem Anspruch der Religion, die Gesetze zu machen. Ultra-antireligiöse Kräfte versuchen, dieses Prinzip der öffentlichen Autorität zu entreißen und der Zivilgesellschaft zu überlassen, aber ein solcher Schritt würde eine Begrenzung der Meinungsfreiheit zur Folge haben. Und genau das ist nicht im Sinne der Laizität, denn für das Prinzip der Laizität gilt zuallererst folgende Prämisse: die Bewahrung der Freiheit.

Das Interview führte Rachid Boutayeb.

© Qantara.de 2008

Catherine Kintzler ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Université de Lille-III.

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