Von der islamischen Religion zur muslimischen Konfession
Sie haben im Kontext des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen in Europa das Stichwort 'Konfessionalisierung' des Islams erwähnt. Was genau meinen Sie damit?
Dan Diner: Der Säkularismus, in dem wir leben, ist eine Säkularisierung der christlichen Form. Unser gesamter Wissenskanon, bezogen auf die Institutionen, auf die Staatslehre, auf das Recht usw. ist ein Phänomen der Säkularisierung, aber der einer christlichen Säkularisierung. Die Menschen, die hierher kommen, kommen mit einem anderen Kanon, mit einem anderen Wissen, mit einem anderen Rechtsverständnis. Und die Verwandlung, die sie vollziehen müssen, wird unser Selbstverständnis verändern, aber gleichzeitig werden sie sich auch verändern müssen, insofern, als der Glaubenskanon der islamischen Religion – die ja nicht nur ein Glaube ist, sondern eine Ordnungssystem, das die gesamte Gesellschaft in den islamischen Ländern reguliert – sich konfessionalisiert. Das ist das entscheidende Wort.
Konfessionalisieren bedeutet, dass hier im westlichen Kontext nur das Konfessionelle von einer alles umfassenden Religion übrig bleibt. Also so, wie der Protestant oder der Katholik in die Kirche und der Jude in die Synagoge geht, aber dann auf der Straße "Mensch" ist, also Deutscher, Franzose, Schweizer oder was auch immer.
Dieser Prozess wird sich auch bei Muslimen abbilden. Aber dadurch, dass sie aus einem außereuropäischen, also außerwestlichen und also außerchristlichen Kontext kommen, werden wir uns mit diesem Prozess ihrer Verwandlung beschäftigen, und werden dabei auch die Bedingungen der Verwandlungen, die sich hier über 400 Jahre vollzogen haben, noch mal in Frage stellen müssen. Das ist die doppelte Bewegung, die ich meinte. Unser säkularer Kanon wird sich verändern, während die islamische Religion sich in eine muslimische Konfession verwandeln wird.
Sie stellen in Ihrem Buch "Versiegelte Zeit" die These auf, dass der Stillstand in der islamischen Welt darauf zurückzuführen ist, dass das 'Sakrale' alle Aspekte des Lebens durchzieht und bestimmt. Inwieweit wird dieses Verständnis des Sakralen von den muslimischen Migranten nach Europa gebracht?
Diner: Das wichtigste, das mit der Säkularisierung einhergeht, beginnend vor 400 Jahren bei uns, ist, dass sich langsam sogenannte Sphären herausgebildet haben. Wir unterscheiden zwischen "intim", "privat" und "öffentlich". Wir würden öffentlich nicht etwas tun oder aussprechen, was in die Intimsphäre gehört. Wenn jemand das tut, dann fällt es auf und wird als eine Irritation wahrgenommen.
Das heißt, diese Sphärenteilung ist eine Folge der Säkularisierung. Im Kernbestand der islamischen Welt sind diese Unterscheidungen nicht recht getroffen. Deshalb der Hinweis, dass das Sakrale, sozusagen die Präsenz Gottes im Alltag, viel größer ist als in unseren Breiten. Wenn jemand ein Vergehen oder eine Sünde begeht, ist es etwas, was auch alle anderen angeht, weil er sich Gott gegenüber versündigt hat.
Muslime, die sich in unserem Breiten aufhalten, werden ihr eigenes Selbstverständnis zu verwandeln haben – und das tun sie ja auch. Es ist wie eine Verhandlung dahingehend: Wer sind wir? Warum sind wir? Was sind wir? Was bedeutet der Schleier? Was bedeutet er nicht? All diese Fragen sind letztendlich Ausdruck von Säkularisierung.
Einige Denker, wie zum Beispiel Micha Brumlik oder die Philosophin Almut Bruckstein, behaupten, es gäbe Parallelen zwischen der Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa in der heutigen Zeit und der Auseinandersetzung mit dem Judentum in Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und zwar in Bezug auf die Feindseligkeit gegenüber diesen beiden Religionen. Inwiefern sehen Sie ebenfalls Parallelen zwischen Islamfeindlichkeit und Antisemitismus in Europa?
Diner: Nicht ganz. Ich sehe Parallelen insofern, als die Juden bis in die Gegenwart, oder jedenfalls bis Anfang des 20. Jahrhunderts, die einzige nichtchristliche Religion im Kontext des europäischen Christentums waren. Insofern waren sie der "Andere". Aber das ist mehr der klassische Antijudaismus. Im 19. Jahrhundert verwandelte sich der Antijudaismus in Antisemitismus, in dem es nicht nur um die Religion geht. Ganz im Gegenteil. Der klassische Antisemitismus sucht den "unsichtbaren" Juden, nicht den "sichtbaren", nicht den Kaftan-Juden, nicht denjenigen, den man als Jude identifiziert. Es war eine Reaktion auf die Moderne. Die Leute haben plötzlich nicht mehr verstanden, was die Welt im Ganzen zusammenhält. Alle Krisen wurden auf die Juden zurückgeführt: 'Die Juden beherrschen die Börse, die Juden schaffen dieses, die Juden schaffen jenes.' Es ist ein modernes Phänomen.
Die Feindseligkeit Muslimen gegenüber hat heute einen anderen Grund, und er ist nicht der gleiche Grund. In der Fremdenfeindlichkeit, soweit es sich um eine solche handelt, sind sie sich sehr ähnlich, aber nicht in der Substanz. Wenn man sagt, 'Kaftanjuden wurden als fremd betrachtet', ja, aber daran hat sich nicht der Antisemitismus entzündet. Der Antisemitismus hat sich an Rathenau entzündet, oder an dem französischen Offizier Dreyfus, mit dem kein Mensch irgendetwas Jüdisches assoziierte, denn er war Franzose. Das heißt, der Antisemitismus ist eine Bebilderung des Abstrakten und dessen, was die Menschen nicht verstanden haben. Die Börsen brachen zusammen, Vermögen wurde vernichtet. Sie haben das nicht verstanden. Sie haben die Moderne nicht verstanden.
Wir hören immer wieder in den Medien den Ausdruck "jüdisch-christliche Tradition", vor allem bei Politkern. Ist dieser Ausdruck zu einer reinen Floskel geworden, oder kann man behaupten, wie zum Beispiel Almut Bruckstein, dass diese Konstruktion ein "Lieblingskind der traumatisierten Deutschen" sei?
Diner: Das ist eine Wortschöpfung nach 1945 und hat eigentlich mit der amerikanischen Re-Education zu tun, also mit der Umerziehung der Deutschen. Man glaubte damals, nicht alleine von Juden reden zu dürfen, und hat sie mit der "guten" christlichen Tradition zusammengefügt. Daraus ist es hervorgegangen. Insofern stimmt es schon, dass dieser Ausdruck eine klassisch deutsche Erfindung ist. Es gibt aber einen Zusammenhang, der vielleicht für unser Thema wichtig und richtig ist: Es gibt natürlich Gemeinsamkeiten, aber in diese Gemeinsamkeiten gehört der Islam hinein, nämlich die Gemeinsamkeit der Antike. Und das gilt gleichermaßen für Judentum, Christentum und Islam.
Der Islam steht heute noch vor der großen Frage, seine Rezeption der antiken griechischen Philosophie nochmals auszugraben, die er ja nach Europa gebracht hatte, die aber seit dem 12. oder 13. Jahrhundert innerhalb des Islam verlorengegangen ist. Der Islam steht somit sozusagen vor der Neuaneignung seiner eigenen Tradition, die ein Teil der Tradition der Antike gewesen ist.
Wenn man dann die Antike zugrunde legt – griechisch, römisch usw. – dann treffen sich Judentum, Christentum und Islam. Das wäre eine Gemeinsamkeit. Es ist merkwürdigerweise eine Gemeinsamkeit in der griechischen Philosophie – das was man auf Arabisch falsafa nennt. Und sie ist also das Erbe von Platon und Aristoteles, und gehört aber auch in die Säkularisierungsgeschichte hinein.
Interview: Nader Alsarras
© Qantara.de 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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