''Wir sehen Europa als eine Wertegemeinschaft''
Der türkische Chefunterhändler für die Beitrittsverhandlungen mit der EU, Egemen Bağış, glaubt, dass eine Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union weniger aus ökonomischen Gründen notwendig sei. Der türkische Beitritt könne jedoch eine wichtige Botschaft an die islamische Welt aussenden. Ayşe Karabat hat sich mit ihm unterhalten.
Einige Staatschefs der EU-Mitgliedsstaaten denken, dass die Türkei kein EU-Mitglied werden sollte, weil es ein islamisches Land sei. Was denken Sie darüber?
Egemen Bağış: Die türkische Gesellschaft ist nicht erst vor kurzem zum Islam konvertiert. Als die Türkei eine Mitgliedschaft beantragte, war sie auch schon ein islamisches Land. Außerdem gehört der Islam innerhalb der EU längst zur Realität. Zehn Prozent seiner Einwohner sind Muslime. Die Brandstifter, die Autos anzündeten, waren junge, in Europa geborene Muslime, doch wer würde sie als "Fremde" titulieren? Man sollte ihnen die richtige Botschaft senden, genauso wie den 1,5 Milliarden Muslimen in der Welt, die die Entscheidung der EU über den Beitritt der Türkei aufmerksam verfolgen. Es ist wichtig, ihnen die richtige Botschaft zu senden und ein Beitritt der Türkei wäre eine solche.
Manche behaupten, die Türkei würde ihr Augenmerk in Richtung Osten verschieben und dass dies auch ihre Distanz zu Europa vergrößere. Stimmt das?
Bağış: Das größte Augenmerk der Türkei ist weiterhin auf Europa gerichtet. Sicher ist es richtig, dass sie ihre Beziehungen mit all ihren Nachbarn stärkt und festigt – Griechenland, Russland, Georgien – und auch regionale Initiativen anregt. In all diesen Ländern und Regionen vertritt die Türkei europäische Werte. Dennoch werden allzu oft nur die Beziehungen mit den muslimischen Ländern hervorgehoben. Dabei wäre es doch im Gegenteil so, dass eine Isolation einzelner Staaten eine konkrete Achsenverschiebung bedeuten würde, was die internationalen Werte angeht.
Nehmen Sie den Iran als Beispiel. Mit der Durchsetzung von Sanktionen werden neue Mauern errichtet, doch wenn man Mauern einreißt, wird es möglich sein, sie von einer gemeinsamen Zukunft zu überzeugen. Die Türkei ist bemüht, eine diplomatische Lösung für die iranische Frage zu formulieren. Dabei versuchen wir, unsere guten Beziehungen zum Nutzen der restlichen Welt einzusetzen.
Nach Monaten intensiver Gespräche und Diskussionen wurde eine Übereinkunft erzielt, die einen Tausch von schwach angereichertem Uran gegen angereichertes Uran vorsieht. Die UN entschied sich aber dafür, Sanktionen zu verhängen. Hätte die Türkei dafür gestimmt, hätte dies bedeutet, dass sie ihre eigene Diplomatie bloßstellt. Dadurch aber, dass wir uns gegen die Sanktionen stellten, hielten wir die Tür für einen Dialog offen, der nun von Lady Ashton (Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik; Anmerkung der Redaktion) genutzt wird. Als der UN-Sicherheitsrat seine Entscheidung fällte, gaben wir jedoch nach.
Andererseits haben die europäischen Staaten und ständigen Mitglieder der UN tiefgehende und ausgedehnte Abkommen mit dem Iran, Syrien und anderen Akteuren in der Region, und das sowohl in Bezug auf die Wirtschaft im Allgemeinen und den Handel im Besonderen, als auch was die diplomatische Ebene angeht. Dennoch wird der Ansatz der westlichen Länder nicht als "Achsenverschiebung" bezeichnet.
Kann die Türkei einen positiven Beitrag zur EU leisten?
Bağış: Eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU wäre eine "Win-win"-Situation – für die Türkei, für Europa und auch darüber hinaus. Während Europa unter einer Wirtschaftskrise leidet, befindet sich die türkische Ökonomie bereits nach relativ kurzer Zeit wieder im Aufwind. Die Türkei ist die sechstgrößte Volkswirtschaft Europas mit einer Wachstumsrate von 11 Prozent.
Wir haben uns einen neuen Slogan zugelegt, der lautet: "Keine Angst, Europa, die Türkei wird euch retten!" Wenn Sie an die junge, 70 Millionen Menschen zählende Bevölkerung und die 1,5 Milliarden Konsumenten im regionalen türkischen Umfeld denken, wird doch eines ganz klar: Der Beitritt der Türkei wird nicht nur den europäischen Binnenmarkt vergrößern, sondern auch seine Wettbewerbsfähigkeit in der Weltwirtschaft steigern. Zudem ist die Türkei ein Energiekorridor zwischen Europa, Zentralasien und dem Nahen Osten.
Über 70 Prozent der Reserven an Rohöl und Erdgas, die die EU benötigt, liegen in Gebieten, die an die Türkei angrenzen. Das macht die Türkei keineswegs zu einer Belastung für die EU: sie wird der Union vielmehr eine gewaltige Last von den Schultern nehmen und einen wesentlichen Beitrag zu einer Union mit einer klaren Vision von Führung, Vielfalt und Einheit leisten. Gerade deshalb kann ich nur schwer verstehen, warum das Kapitel Energie in den Beitrittsverhandlungen nicht geöffnet werden kann, wenn es doch ein solch entscheidendes Potential bietet, die europäischen Märkte mit verlässlicher und nachhaltiger Energie zu versorgen.
Diese Kapitel können ja wegen der Zypernfrage nicht geöffnet werden. Was sollte die EU unternehmen, um einen Weg aus dieser Sackgasse aufzuzeigen?
Bağış: Was die EU in Hinblick auf Zypern tun muss, ist vor allem, ihre eigenen Beschlüsse umzusetzen. Schon 2004 beschloss der Europäische Rat einstimmig, der Isolation Nordzyperns ein Ende zu bereiten – genauso, als würde man Handel mit Taiwan treiben, ohne es anzuerkennen. Dies würde mir Munition geben, meine Häfen für (griechisch-) zypriotische Schiffe zu öffnen, was der Umsetzung des Zusatzprotokolls des Ankara-Abkommens bedeuten würde. Doch nur einer der 27 Staaten der EU treibt Handel mir Nordzypern: Südzypern. Es ist unfair, sie allein zu lassen.
Wenn die EU-Staaten beginnen, Flughäfen im Norden Zyperns anzufliegen, werde ich alle meine Häfen für das südliche Zypern öffnen, doch solange die Entscheidung des Europäischen Rates nicht umgesetzt wird, fällt es mir schwer, das zu tun. Wir leben schließlich in einer Demokratie und die Menschen werden sich im Hinblick auf die Zypernfrage schlecht behandelt fühlen.
Einige meinen, dass die Türkei ihre Motivation, EU-Mitglied zu werden, verloren habe und dass sich deshalb der Reformprozess verlangsamt habe. Stimmen Sie dem zu?
Bağış: Trotz aller politischen Schwierigkeiten sind wir auf dem richtigen Weg – wie Sie auch an den EU-Fortschrittsberichten erkennen können, die von der Europäischen Kommission vorbereitet werden. Wenn diese Berichte auch für die Mitgliedsstaaten gemacht würden, könnten Sie sehen, dass wir sogar einiges mehr leisten als manche von ihnen. Wir haben uns dafür entschieden, unseren eigenen Zeitplan aufzustellen und wir denken, dass wir bis Ende 2014 den Prozess der Gesetzgebungsreform abgeschlossen haben werden.
Wir brauchen wir zum Beispiel ein neues, modernes Handelsrecht, was auch von der EU als eine Aufnahmebedingung genannt wurde. Die politischen Parteien haben sich geeinigt, ein solches Gesetz zu verabschieden. Da es sich um ein sehr umfangreiches Gesetzeswerk handelt, hätte es, wenn dieser Konsens nicht erreicht worden wäre, sicher zwei Jahre gebraucht, um es zu verabschieden. Dies ist in meinen Augen noch wichtiger als die Öffnung von drei oder vier neuen Kapiteln in den Beitrittsverhandlungen, weil dieses Gesetz mein Land näher an Europa rückt.
Ankara hat den französischen und deutschen Vorschlag einer "privilegierten Partnerschaft" abgelehnt. Warum?
Bağış: Dieses Angebot ist eine Beleidigung, weil so etwas nicht existiert. Und etwas nicht Existierendes angeboten zu bekommen, gibt mir nun einmal das Gefühl, beleidigt zu werden. Wenn eines Tages einer der Mitgliedsstaaten beschließen sollte, seinen Status in den einer privilegierten Partnerschaft umzuwandeln, können wir darüber noch einmal diskutieren.
Einige Experten meinen, dass die Türkei die EU gar nicht brauche. Ist das wahr?
Bağış: Das hängt davon ab, als was Sie die EU wahrnehmen. Wenn Sie es als bloßen wirtschaftlichen Zusammenschluss sehen, dann braucht die Türkei die EU wahrscheinlich tatsächlich nicht dringend. Die Türkei kann ihre wichtigsten Projekte auch ohne die EU durchführen. Wenn Sie es aber als kulturelle Union sehen, ist das Interesse beiderseitig. Wenn Sie es als Friedensprojekt sehen, ist es die Aufgabe eines jeden und nicht nur der Türkei, sie zu stärken und sie am Leben zu erhalten. Unsere Erwartungen sind nicht auf das Ökonomische gerichtet. Wir sehen Europa als ein Europa der Werte, und darum wollen wir Mitglied werden.
Interview: Ayşe Karabat
© Qantara.de 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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