Was der Netanjahu-Haftbefehl über das Völkerstrafrecht lehrt

Der Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag vor blauem Himmel. (Foto: picture alliance / ANP | "Phil nijhuis")
Ist oft blockiert oder nicht zuständig: der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag (Foto: Picture Alliance / ANP | P. Nijhuis)

Die Haftbefehle gegen israelische Spitzenpolitiker stellen das Völkerrecht auf die Probe. Unterstützen westliche Staaten UN-Gerichte nur, wenn es den eigenen Interessen dient? Und wenn ja, ist das „Weltrechtsprinzip” die Rettung für die internationale Strafjustiz?

Von Hannah El-Hitami

Ob mit Absicht oder aus Unkenntnis: Auf die Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und seinen ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant fanden sich überall in sozialen und klassischen Medien falsche Informationen und verdrehte Tatsachen. So empörte sich etwa Remko Leemhuis, der Direktor des American Jewish Committee Berlin, in der deutschen Zeitung Die Welt, dass nicht einmal „gegen den Schlächter Baschar al-Assad“ ein IStGH-Haftbefehl vorliege. 

Damit hat er zwar Recht. Dies geht aber keineswegs auf Doppelstandards der internationalen Justiz zurück, wie Leemhuis suggerierte, sondern auf die Tatsache, dass Syrien schlichtweg kein Mitglied des IStGH ist. Syrische Verbrechen könnte der IStGH nur verfolgen, wenn der UN-Sicherheitsrat tätig würde. Das verhindern Russland und China seit Jahren. Israel hat sich dem Römischen Statut des IStGH zwar auch nicht verpflichtet, doch weil Palästina seit 2015 IStGH-Mitglied ist, kann der Gerichtshof zu möglichen Verbrechen im Gazastreifen sowie im Westjordanland ermitteln. 

Leemhuis erwähnte auch nicht, dass gegen den mittlerweile gestürzten Assad sowie gegen Mitglieder seiner Geheimdienste und Milizen zahlreiche Verfahren laufen oder bereits abgeschlossen sind. Staaten wie Deutschland oder Frankreich nutzen seit Jahren das „Weltrechtsprinzip”, um die Blockade des IStGH in Bezug auf Syrien zu umgehen. 

Dieses Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit erlaubt es Staaten, besonders schwere Völkerrechtsverbrechen wie Genozid, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann zu verfolgen, wenn sie außerhalb ihres Territoriums begangen wurden und deren Täter*innen oder Opfer aus einem anderen Staat kommen.  

Das Weltrechtsprinzip erlebt seit einigen Jahren einen Aufschwung. Oft wird es als Mittel gegen Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen gepriesen, weil es unabhängig von der Kooperation betroffener Regierungen genutzt werden kann. Insbesondere Deutschland hat sich mit seinem Engagement gegen syrische Täter weltweit als Vorreiter in der Durchsetzung des Völkerstrafrechts präsentiert. Tatsächlich ist das Weltrechtsprinzip am häufigsten in Deutschland angewandt worden, gefolgt von Frankreich.  

Keine Ermittlungen wegen Guantánamo und Abu Ghraib

Nun sind es allerdings ausgerechnet diese beiden Staaten, die besonders abwehrend auf die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant reagiert haben, die der IStGH im November erließ. Noch dazu nutzt Deutschland das Weltrechtsprinzip aktuell nicht für eigene Ermittlungen zu möglichen Völkerrechtsverbrechen in Gaza – anders als im Falle der Kriege in Syrien und der Ukraine.  

Das wirft die alte Frage auf, ob Staaten das Völkerstrafrecht nur dann vorantreiben, wenn es ihren politischen Interessen dient. Zudem macht es deutlich, dass der IStGH für die Glaubwürdigkeit des Völkerrechts unverzichtbar ist, bindet er doch seine 124 Mitgliedsstaaten – unabhängig von ihren politischen Interessen – an völkerrechtliche Verpflichtungen. 

Der Vorteil des Weltrechtsprinzips hingegen ist, wie bereits erwähnt, dass es anders als der IStGH territorial ungebunden ist und auch potenzielle Täter*innen aus Ländern verfolgen kann, die sich nicht zu ihm bekannt haben. In seiner weitesten Auslegung – die in Deutschland Gesetz ist –  braucht es nur den Willen des Staates, um zu ermitteln. 

Genau darin liegt aber auch die Schwäche des Weltrechtsprinzips: In der Praxis können Staaten von Fall zu Fall zu entscheiden, ob sie aktiv werden möchten. Der Rechtswissenschaftler Maximo Langer, der zum Trend des Weltrechtsprinzips geforscht hat, vertritt die These, dass „Staaten starke Anreize haben, sich auf Angeklagte zu konzentrieren, die sie im Bereich der internationalen Beziehungen wenig kosten.“ 

Die Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte zeigen, wo das Weltrechtsprinzip an Grenzen stößt: Zwischen 2004 und 2007 versuchten Überlebende zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Mitglieder der US-Regierung wegen möglicher Kriegsverbrechen, Folter und weiterer Straftaten in den Militärgefängnissen Guantánamo und Abu Ghraib zur Verantwortung zu ziehen.  

Drei Strafanzeigen wurden in Deutschland und Frankreich gestellt, unter anderem gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den ehemaligen CIA-Direktor George Tenet sowie ranghohe Militärs. Die Strafverfolgungsbehörden beider Länder entschieden jedoch, keine Ermittlungen aufzunehmen.  

„Völkerrechtsverbrechen werden oft von Staatsbeamten begangen”, schreibt Langer. „Es ist daher wahrscheinlich, dass der Herkunftsstaat des Angeklagten diplomatisch gegen den anklagenden Staat vorgehen und ihm mit Repressalien drohen wird.” Spanien und Belgien schränkten wohl aus diesem Grund in den 2010er Jahren ihre Auslegung des Weltrechtsprinzips so ein, dass sie mutmaßliche Täter aus China und den USA nicht verfolgen müssen. Zuvor hatten die Regierungen der beiden mächtigen Staaten ihnen mit massiven politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen gedroht. 

Deutschland verliert seine Glaubwürdigkeit

Wenn die deutsche Bundesanwaltschaft in Karlsruhe das Weltrechtsprinzip nutzt, um ehemalige Offiziere aus Syrien oder Ex-Milizionäre aus Gambia vor Gericht zu stellen, hat dies für Deutschland keine schwerwiegenden außenpolitischen Konsequenzen. Es fördert vielmehr das Image der Bundesrepublik als Staat, der seine eigene Unrechtsvergangenheit überwunden hat und heute für Gerechtigkeit in anderen Ländern sorgt. 

Dagegen gibt es wohl kaum Fälle von Strafverfolgung, die Deutschland diplomatisch mehr kosten würden als die von mutmaßlichen Täter*innen aus Israel. Dass Deutschland in diesem Zusammenhang nicht ermittelt, bedeutet natürlich nicht, dass andere Staaten nicht aktiv werden können. Doch es ist zu erwarten, dass viele vor den damit verbundenen finanziellen und diplomatischen Hürden zurückschrecken. 

„Aus unserer Sicht ist das ein Doppelstandard, eine selektive Verfolgung von Völkerstraftaten“, sagt Alexander Schwarz von der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. 

Aktuell versucht das ECCHR die Bundesanwaltschaft zu einem sogenannten Strukturermittlungsverfahren zum Gazakrieg zu bewegen. Solch strukturelle Ermittlungen richten sich nicht gegen konkrete Verdächtige; stattdessen sammeln Ermittlungsbehörden erst einmal alles verfügbare Beweismaterial, um es später für individuelle Anklagen zu nutzen. 

Konkreter Aufhänger ist der Fall einer deutsch-palästinensischen Familie, die Ende Oktober durch israelische Luftangriffe in Gaza getötet wurde – möglicherweise Kriegsverbrechen, doch die Bundesanwaltschaft sehe sich nicht zuständig, kritisiert Schwarz.  

Ganz anders sei es bei dem großflächigen Angriff Russlands auf die Ukraine gewesen: „Da hat die Bundesanwaltschaft schon zwei Wochen nach Beginn der Großinvasion ein Strukturermittlungsverfahren eingeleitet.“ Mehr als ein Jahr nach Beginn des Krieges in Gaza gebe es hingegen keine Ermittlungen, „sondern eine deutliche Verweigerungshaltung.“ 

„Wir verlieren damit die Glaubwürdigkeit, die das Völkerstrafrecht braucht, um effizient zu sein“, sagt Schwarz. Nur ein glaubwürdiges Völkerstrafrecht habe die Autorität, die es benötigt, um von Überlebenden als vertrauenswürdige Institution der Aufarbeitung und Anerkennung wahrgenommen zu werden. Grundlage für diese Glaubwürdigkeit ist eine verbindliche, konsequente Anwendung des Völkerstrafrechts: ohne Ansehen der Person, wie oft gesagt wird.  

IStGH existenziell bedroht

Staaten wie Deutschland oder Frankreich, die ihr Unwohlsein im Fall der israelischen Betroffenen klar ausgedrückt haben, müssen den IStGH trotzdem unterstützen. Hier zeigt sich die Verbindlichkeit des IStGH-Statuts als Stärke. Genau deswegen dürfte er bald allerdings Angriffen ausgesetzt sein, die seine Existenz grundlegend bedrohen. „Der IStGH muss nun sehr wahrscheinlich mit der massivsten Gegenwehr rechnen, die er je erfahren hat“, glaubt Schwarz. 

Bereits im Mai hatte der Guardian berichtet, dass die ehemalige IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda über Jahre hinweg vom israelischen Geheimdienst bespitzelt und bedroht wurde, nachdem sie Ermittlungen zu mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Gaza im Jahr 2014 eingeleitet hatte.  

Auch Politiker aus den USA, die selbst kein Mitglied des IStGH sind, drohten dem Gerichtshof und seinen Beamten nach den jüngsten Haftbefehlen mit Sanktionen und riefen Staaten auf, ihre Unterstützung einzustellen. Und Viktor Orbán sicherte Netanjahu zu, dass Ungarn ihn trotz der IStGH-Mitgliedschaft des Landes nicht festnehmen werde.  

„Man kann nur hoffen, dass die Allianz der unterstützenden Staaten groß genug ist, den Angriffen und Bedrohungen zu widerstehen“, sagt Schwarz. Denn so hilfreich das Weltrechtsprinzip bei der Umgehung manch politischer Blockade gewesen sein mag – sollte der IStGH am Druck mächtiger Staaten und der Verweigerungshaltung seiner eigenen Mitglieder zerbrechen, ist es allein nicht geeignet, eine verbindliche internationale Rechtsordnung aufrechtzuerhalten. 

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