"Wir sollten das Grundgesetz nicht taufen"
In der Reaktion auf Christian Wulffs Bemerkungen zum Islam spricht jetzt Volker Kauder, Fraktionschef der CDU/CSU, mit manchen anderen vom "Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen Erbe beruht". Was ist damit gemeint?
Friedrich Wilhelm Graf: Zunächst muss man sagen, dass die Behauptung einfach falsch ist. Der moderne Verfassungsstaat, und speziell der Rechtsstaat in Deutschland, ist weithin gegen die Kirchen durchgesetzt worden. So wurde etwa noch weit bis in die fünfziger Jahre in den Diskursen beider großen Kirchen der Begriff "Menschenrechte" eher kritisch gesehen, als liberalistische Verirrung des modernen Menschen.
Später, im Zusammenhang mit der Diskussion um die Menschenwürde, wurde stärker über religiöse Wurzeln nachgedacht. Der Begriff "Menschenwürde" kommt von den antiken Stoikern, ist dann von den christlichen Kirchenvätern aufgenommen und in der christlichen Renaissance-Philosophie modelliert worden. Aber der enge Zusammenhang von Menschenwürde und Ebenbild-Vorstellungen ist erst ein Konstrukt des 20. Jahrhunderts.
Und was bedeutet der Begriff "christlich jüdisch", der ja mit politischen Absichten verwendet wird?
Graf: Diese Formel ist wenig hilfreich, da sie fundamentale Differenzen zwischen Christentum und Judentum ausblendet. Es handelt sich um eine vor allem nach 1945 geprägte Wendung, die dann auch politische Korrektheit signalisierte.
Gewiss wurde mit dem alttestamentlichen oder hebräisch-jüdischen Prophetismus eine universalistische Ethik institutionalisiert, das ist richtig, und diese hat auch das Christentum geprägt. Doch ist die Formel "christlich-jüdisch" in der aktuellen Verwendungsweise gefährlich, weil sie die Unterscheidung von Recht und Religion relativiert.
Inwiefern gefährlich?
Graf: Der freiheitliche Verfassungsstaat lebt doch gerade davon, dass er religiös neutral ist und dass zwischen moralischen, religiösen und rechtlichen Fragen prägnant unterschieden wird.
In Reaktion auf den Bundespräsidenten wird teils von christlich-jüdischen "Wurzeln" oder dem "Erbe" der Verfassung gesprochen, teils aber von ebensolchen "Werten". Was wäre denn der Unterschied?
Graf: Die Verfassung ist ein Produkt von Aufklärungsdenken. Und die ganze Werte-Rhetorik ist hoch ambivalent, weil sie ihrerseits die Unterscheidung von Moral und Recht unterläuft. Man hat als Staatsbürger eine Pflicht, und das gilt unabhängig von Religion, zum Rechtsgehorsam. Man hat aber nicht die Pflicht, irgendwelchen "Werten" zuzustimmen. Es ist nicht so, dass ein zugewanderter Muslim, der in diesem Land Staatsbürger ist, eine Werteordnung zu akzeptieren hätte, sondern eine Rechtsordnung.
Man sagt: Es möge ja sein, dass der Islam zu Deutschland gehöre, er trage aber nichts zu unseren Werten bei. Gibt es denn nicht einen Unterschied zwischen den normativen "Beiträgen" der einheimischen und der zugewanderten Religion?
Graf: Nein. Spannungen zwischen religiösem Recht und staatlichem Recht etwa gibt es in allen Religionskulturen.
Auch das katholische Kirchenrecht ist nicht voll kompatibel mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb sagt aber niemand, die Katholiken seien keine Staatsbürger. Der Grund für auftretende Spannungen ist in beiden Fällen, dass moralische, kultische Vorstellungen und rituelle Regeln mit anderen Regeln wie etwa zum Familienrecht in Verbindung treten.
Der Islam nun muss deshalb nicht zu den Werten der Bundesrepublik beitragen, weil die Rede von den Werten der Bundesrepublik schon falsch ist. Muslime können sich in ihrem Privatleben durchaus an Regeln der Scharia orientieren, aber klar muss allen sein, dass die verbindliche staatliche Rechtsordnung das Grundgesetz ist.
Woran liegt es, dass die Formulierung "Der Islam gehört zu Deutschland" so starke Reaktionen hervorruft?
Graf: Ich verstehe es nicht — der Satz ist ja wenig originell. Wolfgang Schäuble hat Ähnliches schon vor Jahren gesagt. Der Satz ist auch nicht besonders intelligent, weil er zwischen Empirie und positiver Bewertung schwankt.
Die Aufheizung durch die Debatte um Thilo Sarrazin ist gewaltig. Was haben denn die realen Probleme der Integration von Einwanderern, über die man jetzt redet, mit Religion zu tun?
Graf: Nun, viele Einwanderer definieren sich selbst nicht in erster Linie über ihre Religion. Sie werden vielmehr von der Mehrheitsgesellschaft oder von politischen Akteuren religiös definiert. Viele der hiesigen Muslime sind aber religiös nicht besonders aktiv.
Aus diesem Widerspruch erwachsen Spannungen. Umgekehrt kann auch Christsein sehr Unterschiedliches bedeuten: Kirchenmitgliedschaft, aktive religiöse Praxis… Ein ähnlich diffuses, vieldeutiges Bild geben islamische Gemeinschaften in der Bundesrepublik ab.
Es bringt wenig, einen ägyptischen Arzt, einen iranischen Physikstudenten und einen Analphabeten Bundesrepublik deshalb unter demselben Begriff "Muslim" zu rubrizieren.
"Islam" wird also derzeit ebenso wie auch "Christentum" oder "christlich-jüdisch" vor allem als politischer Kampfbegriff benutzt?
Graf: Ja, das ist weithin so. Es sind dies jedenfalls keine Begrifflichkeiten, die uns helfen, die gesellschaftlichen Probleme, die wir haben, angemessen zu benennen. Diese Probleme haben bekanntlich damit zu tun, dass wir lange Zeit de facto ein Einwanderungsland gewesen sind, es aber nicht sein wollten, und daher die Einwanderung nach Deutschland nicht recht gesteuert und begleitet haben.
Für die Einhegung von bedrohlichen Kulturkonflikten wird immer wieder ein "Dialog der Religionen" als Heilmittel gesehen.
Graf: Ein "Dialog der Religionen" wird in aller Regel von religiösen Funktionären geführt. Das ist ja auch gut, weil es immer gut ist, wenn Menschen miteinander reden und sich über Differenzen, Traditionen und Prägungen klar werden.
In pluralistischen Gesellschaften muss man sich über normative Dissense austauschen. Umso wichtiger wird dann allerdings das staatliche Recht als Pazifizierungsinstrument des Zusammenlebens.
Religionsdialoge helfen nicht, bestimmten sozialen Konflikten oder Bildungsproblemen gerecht zu werden. Entscheidend ist eine langfristig orientierte Bildungspolitik, die ja zum Teil auch schon Erfolge erzielt. Wo Menschen von einer komplexen Gesellschaft unseres Typs überfordert sind, hat das meist wenig mit Religion zu tun.
Zugestanden, dass religiöse Kategorien in der Politik oft nur noch Kampfbegriffe sind – was ist aber mit den konkreten Kollisionen eines säkularen Staates mit einer frommen Praxis, die sich davon absetzt, etwa in Schule und Erziehung? Gibt es da nicht sehr verschiedene Vorstellungen von Religionsfreiheit?
Graf: Natürlich bedeutet auch im Rechtssystem mehr Verschiedenheit mehr Konflikt. Zunehmende juristische Konflikte in religiösen Dingen sind ein Indikator für religiösen Wandel.
Die deutsche Tradition ist, dass religiösen Akteuren starke Rechte eingeräumt werden; dass der Staat religiös und weltanschaulich neutral ist, sich aber positiv zu Religionsgemeinschaften verhält. Dieses spezifische deutsche Modell kann auch auf muslimische Akteure im Lande Anwendung finden. Dies wird allerdings im restlichen Europa zum Teil sehr kritisch gesehen. Da sind weitere Auseinandersetzungen zu erwarten.
Was bringt uns weiter: ein Bekenntnis zur Tradition des deutschen Verständnisses von Religionsfreiheit – oder ein streng laizistisches Vorgehen, bei dem man Kopftücher aus den Schulen verbannt?
Graf: Nun, der Laizismus hat jedenfalls kontraproduktiv gewirkt. In Frankreich hat er die Konflikte nicht gelöst, sondern eher neue erzeugt. Bei uns dürfen muslimische Schülerinnen Kopftuch tragen; ein Verbot wäre eher schädlich.
Mehr Flexibilität, mehr Offenheit für die Bekundung von religiösen Überzeugungen im öffentlichen Raum erscheint mir sinnvoller als mehr Repression. Im übrigen ist das besondere Erbe solcher Religionsfreiheit ja auch juristisch kodifiziert.
Zum Grundgesetz gehört auch ein entsprechendes Staatskirchenrecht, ich sage lieber: Religionsverfassungsrecht. Dieses ist offen für Pluralismus – es setzt aber kein Bekenntnis zum Christentum voraus. Ich meine: Wir sollten das Grundgesetz nicht taufen, das macht alles nur viel schwieriger.
Interview: Johan Schloemann
© Süddeutsche Zeitung 2010
Friedrich Wilhelm Graf, evangelischer Theologe in München, hat zuletzt das Buch "Missbrauchte Götter" vorgelegt (C.H. Beck, 2009).
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Qantara.de
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