''Saleh ist die Quelle des Terrors''
Frau Karman, Sie haben den Friedensnobelpreis, der Ihnen am Samstag (10.12.2011) in Oslo verliehen wurde, der Protestbewegung des arabischen Frühlings gewidmet. Sind Sie optimistisch, dass die Revolution in Ihrem Land siegen wird?
Tawakkul Karman: Wir bewegen uns in die richtige Richtung. Unser Land stand vor einem völligen Kollaps. Der Jemen ist ein gescheiterter Staat, wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich. Schuld daran trägt das Regime. Wir fordern - auf friedliche Weise - den Sturz des korrupten und despotischen Regimes.
Präsident Saleh hat sich bereit erklärt, die Macht abzugeben. Die Proteste gehen aber weiter...
Karman: Wir wollen nicht nur den Abtritt des Präsidenten, sondern einen kompletten Machtwechsel. Das ganze Regime ist gescheitert. Wir brauchen neue, saubere Leute für einen zivilen und demokratischen Staat. Saleh hat in Saudi-Arabien eine Erklärung unterschrieben, in der er anerkennt, dass seine Ära beendet ist. Das ist gut, aber die Frage ist: Hat er seither irgendetwas von dieser Erklärung verwirklicht? Nein! Er ist weiterhin im Amt, mit allen Kompetenzen. Er hat immer noch den Oberbefehl über das Militär. Er hält immer noch Ansprachen. Er ernennt immer noch politisches Personal. Er lügt, er belügt die ganze Welt. Die Schuld liegt nicht nur bei ihm, sondern auch bei jenen, die ihm die Chance gegeben haben zu lügen.
Sie meinen Saudi-Arabien.
Karman: Die Schuld hat Riad, aber auch alle, welche die Initiative des Golf-Kooperationrates loben. Die größte Schuld tragen die Vereinigten Staaten. Sie stecken hinter dieser Initiative. Die internationale Gemeinschaft hat sich nicht deutlich genug von ihm abgewendet, dazu zählt auch Deutschland. Zwar hat Berlin Druck auf Saleh ausgeübt, vor allem im UN-Sicherheitsrat. Aber bis heute folgten den Worten keine Taten. Wir fordern, dass seine Auslandskonten eingefroren werden, wir fordern, dass die Staatengemeinschaft dafür sorgt, dass die vereinbarte internationale Untersuchungskommission eingesetzt wird.
Sie halten also die Übergangsregierung des bisherigen Vizepräsidenten Hadi für reine Fassade? Er will eine Regierung der Nationalen Einheit unter dem designierten Ministerpräsidenten Basindawa berufen, an der auch Oppositionelle beteiligt werden sollen.
Karman: Das sind alles sehr vordergründige Veränderungen, die völlig nutzlos sind. Solange Saleh da ist, wird diese Übergangsregierung nichts zu sagen haben. Die Jugend des Jemen lehnt jede Allianz mit dem korrupten Regime ab. Die Hälfte der Übergangsregierung ist Teil des alten Regimes. Militär und Sicherheitsbehörden müssen von einer neuen, unabhängigen Kommission geführt werden. Kein Mitglied dieser Kommission darf Blut an den Händen haben.
Sie kritisieren Washington. Halten Sie die amerikanische Angst vor radikalislamischen Strömungen im Jemen, vor Leuten, die Verbindungen zu Al Qaida haben, für gänzlich unbegründet?
Karman: Ich glaube gar nicht, dass diese Ängste in Washington wirklich bestehen. Die Amerikaner wissen sehr wohl, dass Präsident Saleh selbst die Quelle des Terrors ist. Die Nachrichtendienste Amerikas sind sicher so gut, dass sie das ihrer Regierung bestätigen können.
Was ist Ihrer Meinung nach das Interesse Washingtons, nicht auf einen völligen Machtwechsel in Sanaa zu setzen?
Karman: Diese Frage müssen Sie an Washington richten. Ihr Interesse sollte das Wohlergehen des jemenitischen Volkes sein. Nur das Volk kann die Quellen Al Qaidas im Jemen trockenlegen. Möglicherweise haben die Saudis die amerikanische Meinungsbildung beeinflusst. Das saudische Königshaus will keinesfalls eine echte Revolution im Jemen. Die Staatengemeinschaft hat einen großen Fehler gemacht, als sie das Schicksal des Jemen in die Hände seiner Nachbarstaaten legte. Wir wehren uns dagegen. Ich fordere Washington auf, seine Haltung zu überdenken. Das jemenitische Volk wird siegen. Die Staatengemeinschaft steht vor der Wahl: Entweder sie geht mit dem Volk eine Allianz ein oder mit einem Regime, das der Vergangenheit angehört.
Welche Staatsform streben Sie an? Welche Rolle soll der Islam künftig spielen?
Karman: Wir wollen einen zivilen, demokratischen und modernen Staat mit Grundrechten für alle Bürger, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und demokratischen Beteiligungsrechten.
Was ist mit der Scharia?
Karman: Es gibt mehrere Religionen in der Region. Wir müssen die Glaubensfreiheit, die individuelle Glaubensfreiheit, respektieren. Deswegen sprechen wir von einem zivilen und demokratischen Staat.
Ist das Ihre persönliche Forderung? Oder ist es auch die Forderung der Islah-Partei, der sie angehören?
Karman: Es ist die Vision der Jugend. Ich bin Sprecherin der Revolutionsjugend. Wir haben ein Programm, das dafür steht. Wir werben unter allen gesellschaftlichen Gruppen und Stämmen, sich unseren Forderungen anzuschließen.
Und die Islah-Partei, die zur Bewegung der Muslimbruderschaft gehört, will das auch?
Karman: Das sollte sie. Ich erwarte das.
Warum haben Sie dann angekündigt, eine neue Partei zu gründen?
Karman: Es ist wichtig, dass sich die Jugend einen politischen Rahmen gibt, einen Rahmen, der die Revolution schützt und innerhalb dessen sie ihre politischen Ziele verfolgt. Die Partei soll eine politische Rolle spielen - 80 Prozent der Jemeniten sind Jugendliche, und der Großteil der vom alten Regime Getöteten sind Jugendliche. Bislang sind sie nicht organisiert. Man redet nur von bestehenden Oppositionsparteien und dem Regime.
Wo sehen Sie künftig Ihre eigene Rolle?
Karman: Ich könnte mir gut vorstellen, auf internationaler Ebene für die Stärkung der Frauen- und Jugendrechte zu kämpfen, vor allem in der arabischen Welt. Doch große Teile der Jugend meines Landes möchten aber, dass ich im Jemen eine politische Rolle spiele. Viele wollen, dass ich als Präsidentschaftskandidatin antrete. Es gibt eine große Facebook-Kampagne.
Ich habe mich noch nicht auf eine Rolle festgelegt. Sollte ich mich für eine politische Karriere entscheiden, gibt es Hindernisse. Nach der vom Golf-Kooperationsrat initiierten Vereinbarung hätte ich nicht das Recht zu kandidieren. Danach darf nur ein einziger Kandidat antreten, auf den sich vorher alle Gruppen verständigt haben. Es ist sehr verwunderlich, wie die Staatengemeinschaft eine solche Bedingung akzeptieren konnte.
Interview: Majid Sattar
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de