Medizin gegen den Extremismus?
Marrakesch, das sind die bunten Gassen der Medina mit ihren zahllosen Souvenirläden, Cafés und dem berühmten Rummelplatz Jama el-Fnaa mit seinen Gauklern, Komödianten und Schlangenbeschwörern. Doch neben diesem Marrakesch, das vom Tourismus lebt, gibt es einen anderen Teil, der den Urlaubern verschlossen bleibt.
Marrakesch ist als Stadt der sieben Heiligen bekannt, welche die Eine-Million-Einwohner-Metropole - so heißt es in der islamischen Tradition - spirituell zusammenhalten. Jeder dieser sieben Schutzpatrone war ein namhafter islamischer Rechtsgelehrter, Weiser oder Mystiker aus dem Mittelalter. Ihre Sufi-Schreine liegen in und um die Altstadt von Marrakesch verstreut, wobei es etwas Geschick braucht, um sie im Labyrinth der Medina aufzufinden.
Der Gedanke, die Grabmäler durch den Brauch einer Pilgerfahrt miteinander zu verbinden, stammt von Moulay Ismail, dem zweiten Herrscher der Alawiden-Dynastie, die Marokko bis heute regiert.
Moulay Ismail, der von 1672-1727 die Geschicke des Landes lenkte und eher für seine harte Hand bekannt war, wollte durch der Stärkung der zawiyas, Ordenszentren der Sufis, den Einfluss einer konkurrierenden Pilgertradition einschränken — jener des Berberstamms der Regraga, welcher in der Region um die Küstenstadt Essaouira eine eigene Pilgerroute mit dem Besuch von sieben Heiligen pflegte. Anders als die Regraga-Heiligen waren die sieben Schutzpatrone von Marrakesch arabischer Herkunft, so wie auch das Königshaus der Alawiden.
Pilgern als Wirtschaftsförderung
Moulay Ismails Plan ging auf: Marrakesch gewann an spiritueller Bedeutung und zog schon bald Glaubensreisende aus dem ganzen Land an, was der Wirtschaft der Stadt zu Auftrieb verhalf. Traditionell begann die Pilgertour, die in Anlehnung an die Umrundung der Kaaba auf einer kreisförmigen Route verläuft, an einem Dienstag und endete schließlich an einem Montag, wobei an jedem der sieben Tage ein Heiliger besucht wurde. Obwohl die ursprüngliche rituelle Form dieser Tradition heute kaum noch praktiziert wird, ziehen viele Mausoleen dieser frommen Persönlichkeiten nach wie vor die Besucher an.
Eines dieser Grabmäler ist der Schrein von Sidi Ben Sliman El-Jazuli, der im 15. Jahrhundert lebte und über den Maghreb hinaus für seine Dala‘il al-Khayrat bekannt ist, ein Sammelwerk muslimischer Gebete. Nach langen Reisen zu den heiligen Stätten von Jerusalem, Medina und Mekka soll El-Jazuli vierzehn Jahre in der Einsamkeit gelebt und schließlich während des Gebets verstorben sein.
Ein weiteres beliebtes Mausoleum ist die Grabstätte von Siddi Bel Abbes, einem Weisen aus dem 12. Jahrhundert, der einige Jahre als Asket in einer Höhle außerhalb von Marrakesch gelebt hat. Auf Einladung des damaligen Sultans siedelte er sich in der Stadt an, wo ihm der Regent eine Madrasa zum Unterrichten sowie eine Herberge für seine Schüler stiftete.
Der quadratische Innenhof im Schreinkomplex von Siddi Bel Abbes kann durch eine überdachte Gasse erreicht werden, die sich Fußgänger und Fahrradfahrer teilen. Unter den ockerfarbenen Arkaden des Hofs sitzt an diesem Vormittag eine Gruppe von Männern verschiedener Altersgruppen zum Gebet beisammen, wobei tasbihs, rosenkranzähnliche Perlenketten, durch ihre Hände gleiten. Beim näheren Hinschauen ist zu erkennen, dass die Männer allesamt blind sind. Sie leben in einer karitativen Einrichtung, die, seit Jahrhunderten angegliedert an den Schrein, auf Siddi Bel Abbes selbst zurückgeht, der sich ganz besonders um Sehbehinderte gekümmert haben soll.
Wie für alle Sakralbauten in Marokko typisch, sind die Wände im Inneren des Mausoleums mit kunstvollen Mosaiken aus Sternen, Kreisen und Karomustern in diversen farblichen und geometrischen Abfolgen dekoriert. Dieser formschönen Innenarchitektur liegt die Absicht zugrunde, dem Besucher beim Eintritt in das Gotteshaus eine irdische Erfahrung des Paradieses zu ermöglichen.
Marabouts: Die Heiligen des Sufismus
In nur wenigen Tagen wird in Marrakesch das Maulid-Fest begangen. Die Feierlichkeiten zum Geburtstag Mohammeds sind in Marokko, insbesondere in den Sufi-Orden, von hoher spiritueller Bedeutung. Mit dem Rücken an die Mosaikwand gelehnt singt ein Ensemble aus fünf in Dschellabas, dem traditionellen marokkanischen Kapuzengewand, gekleideten Männern in gleichbleibender Stimmlage Lobgesänge auf den Propheten.
Ein älterer Herr, der eine knallrote Dschellaba trägt, sprintet über den Teppich im Schrein und verteilt auf einem metallenen Tablett Gläser mit dampfendem Minztee. Neuankömmlinge müssen nicht lange auf ihr Heißgetränk warten — Minztee ist der Inbegriff marokkanischer Gastfreundschaft. Zudem ist es eine Sufi-Tugend, den Gast als Manifestation Gottes zu betrachten und zu bewirten.
Sufi-Bruderschaften bildeten sich in Marokko ab dem 10. und 11. Jahrhundert. Einer der einflussreichsten religiösen Persönlichkeiten des Landes war Abu al Hasan al-Shadili, der Begründer des Shadhiliyya-Ordens, der bis heute eine breite Anhängerschaft in Nordafrika und Teilen des Nahen Ostens hat. Von großem Einfluss ist zudem die Tijaniyya, begründet durch den islamischen Gelehrten und Reformer Ahmad al-Tijani, der in Visionen von Prophet Mohammed die Aufgabe bekommen haben soll, einen neuen Orden zu gründen. Tijanis Grabmal in der Altstadt von Fès wird bis heute von Pilgern aus Westafrika besucht.
Eine Art Volkssufismus mit Verbreitung in Marokko und Tunesien ist auch die Verehrung der Marabouts (islamische Heilige), die islamische und schamanistische Elemente verbindet. Zum Maraboutismus gehören das Aufsuchen von lokalen Heiligen, Trancerituale und Musik.
Marokko hat allerdings auch ein Extremismusproblem, das in direktem Zusammenhang mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit im Land steht. In den Städten liegt diese Statistiken zufolge bei fast vierzig Prozent. Perspektivlosigkeit treibt junge Menschen, wie auch in anderen Ländern der islamischen Welt, in die Hände von Extremisten. Ob bei der Amokfahrt auf dem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 oder beim blutigen Massaker im Bataclan-Club im November 2015 in Paris, häufig sind die Attentäter bei Anschlägen des sogenannten Islamischen Staates marokkanischer Herkunft gewesen.
Strategie gegen den Fundamentalismus
Fundamentalistische Strömungen wie Salafismus und Wahhabismus üben in Marokko seit Jahrzehnten Einfluss aus. Seit den 1970er Jahren propagiert Saudi-Arabien in Nordafrika seine wahabbitische Ideologie mithilfe von Petro-Dollars; billiges Propagandamaterial der Islamisten gerät dabei in die Hände von Generationen Perspektivloser. Die Al-Kaida-Anschlagsserie auf Cafés und Hotels in Casablanca im Jahr 2003, bei der 46 Menschen ums Leben kamen, war in Marokko ein Wendepunkt in der Wahrnehmung dieses Problems. Die Attentäter waren Einheimische, das Problem des Extremismus hausgemacht, was wiederum auch auf die wirtschaftlichen Versäumnisse im Land verweist. Die Attentäter stammten fast alle aus Casablancas berüchtigtem Vorstadtslum Sidi Moumen.
Seit den Anschlägen hat sich der marokkanische König Mohammed VI. - damals im vierten Jahr seiner Regentschaft - Extremismusbekämpfung auf die Fahnen geschrieben. Mohammed VI. ist neben seiner politischen Rolle auch als „Führer der Gläubigen“, das religiöse Oberhaupt des Landes. Zu seinem Reformprogramm gehörte die Förderung von Sufi-Strömungen und moderaten islamischen Denkern, die als Medizin gegen die Verbreitung von Fanatismus angesehen werden — eine Perspektive, die seit 9/11 auch immer wieder von US-Strategen betont wurde.
Diese Sichtweise ignoriert allerdings, dass der Sufismus — selbst wenn er in Ordensstrukturen organisiert ist — in erster Linie ein Pfad der individuellen Charakterschulung ist. Die politische Instrumentalisierung ist somit problematisch, auch wenn es in der Geschichte des maghrebinischen Sufismus durchaus politische Bewegungen gegeben hat, die aus Sufi-Orden hervorgingen, wie etwa jene des Emir Abdelkadir, der erfolgreich gegen die französischen Besatzer kämpfte.
So setzte König Mohammed VI. nach den Anschlägen von Casablanca einen Akademiker mit Sufi-Hintergrund als Religionsminister ein. „Der Sufismus ist ein wesentlicher Bestandteil der marokkanischen Kultur; er ist eher sozial als theoretisch“, wird Ahmed Toufiq in einem Porträt zitiert. „Ich bin unter Mystikern und Geschichtenerzählern aufgewachsen, die den sozialen Zusammenhalt und das Mitgefühl, die Heilung und die Freundlichkeit gegenüber den Mitmenschen betonen.“
Religionsminister Toufiq, der sich der Boutchichiya-Bruderschaft, einem Orden mit Wurzeln im 18. Jahrhundert, verbunden fühlt, leitete das Nationalarchiv in Rabat und unterrichtete Sufismus in Harvard. 2014 half er dabei, das König-Mohammed-VI.-Institut zur Imamausbildung aufzubauen, dem Papst Franziskus auf seiner Marokko-Reise im Jahr 2019 einen Besuch abstattete.
Der Geist des Sufismus fließt somit seit Jahren auch in Marokkos Staatsgeschicke ein — in den Worten von Toufiqs spirituellem Meister Sidi Jamal El Kadiri, dem geistigen Oberhaupt der Boutchichiya, deren Zentrale sich im Nordosten des Landes befindet, lässt sich die islamische Mystik wie folgt definieren: "Der Sufismus ist ernsthafter Islam. Er ist das Herz und das grundlegende Knochenmark des Islam. Er ist die Station der Exzellenz, der Läuterung, der Aufrichtigkeit und der Hingabe in allen Handlungen und Werken.“
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