Verschwörungstheorien haben Konjunktur
Warum sind junge Menschen bereit, in Selbstmordattentaten ihr Leben zu opfern? Auf der Suche nach den Motiven stochern die Fahnder oft hilflos in der menschlichen Psyche. Im Internet äußern junge Islamisten paranoide, auf Verschwörungstheorien aufbauende Weltbilder.
Das kann man in deutschen und englischen Internetforen wie dem "Muslim-Markt", der inzwischen geschlossenen "Hizbuttahrir.org.uk" oder "Islamicity.com" beobachten. Hier sind manche davon überzeugt: "Muslime sollen raus aus Deutschland" und "die Normalbürger werden von den Medien manipuliert und aufgehetzt."
Andere Forum-Teilnehmer sehen gar den Jüngsten Tag nahen und in George W. Bush einen "Gesandten des Teufels". Die US-Außenpolitik versuchen sie mit dem Verweis auf Präsident Bushs Nähe zu radikalen Evangelistenkreisen zu erklären.
Todessehnsucht nicht neu
Omid Nouripour, Mitglied im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen, sieht darin weder ein neues, noch ein typisch islamistisches Phänomen. "Okkultistische Elemente und Verschwörungstheorien hat es im Islamismus schon immer gegeben. Genauso die Todessehnsucht. Jede religiöse Dogmatik beinhaltet eine Todessehnsucht."
Durch Okkultisierung des Diskurses entzieht sich mancher bewusst einer rationalen Argumentation: "Wir dürfen uns nicht durch die Chimäre der Komplexität die klare Sicht auf die Lage vernebeln lassen. Das ist auch eine kosmopolitische Zersetzungswaffe: Paralysierung durch Verkomplizierung. Deshalb wird Vereinfachung sehr gern und sehr oft als 'Schwarzweißmalerei' bezeichnet, wenn die Aussage eine empfindliche Stelle trifft", unterstreicht ein Forumsteilnehmer seine Behauptung, sowohl die Anschläge vom 11. September 2001, wie auch die von London seien von westlichen Geheimdiensten initiiert worden, um die angloamerikanische Welteroberung voran zu treiben.
"Dass hinter der Al-Kaida letztendlich die USA und Israel stecken, wird zu perfekt verschwiegen und vertuscht. Was glauben die, wie lange ihre Vertuschungstaktik noch hält?" Andere führen als Argument ins Feld: "Israel scheint alle Attentate vorhersagen zu können." Und vieldeutig ergänzt ein anderer Chat-Teilnehmer: "Heute werden die Attentate in London mitten im muslimischen Viertel verübt. In Ägypten wird darauf geachtet, dass möglichst wenige Touristen und möglichst viele Einheimische sterben."
"Muslime haben immer Schuld"
Muslime werden nach Meinung dieser Forumsteilnehmer verfolgt, weil sie Muslime sind. "Am letzten Wochenende sind im Irak 150 unschuldige Menschen unter den Augen der Besatzer USA und England brutalen Terroristen zum Opfer gefallen. Für jene Opfer gibt es nicht einmal eine halbe Minute Trauerzeit, denn das sind ja schließlich nur Muslime gewesen, und die haben ohnehin immer Schuld!"
Auch andere Zeitgenossen geben dem Westen die Schuld für den Terror: "Politiker wie Bush und Blair ziehen mit jedem Tag mehr Hass der Völker auf sich. Dieser unvorstellbare Hass, den über 95 Prozent der Weltbevölkerung gegen Bush und Blair teilen, ist eine Kraft, gegen die kein Kraut gewachsen ist."
Sie rechtfertigen die Anschläge der "Partisanenbewegung" als "Reaktionen auf viel barbarischere Akte, die derzeit vom NATO-Militär begangen werden."
Absage an die Toleranz
Sozialpsychologen sehen in Verschwörungstheorien die Rechtfertigung der eigenen feindlichen Handlungen. Menschen neigen demnach dazu, sich schuldig zu fühlen, wenn sie aggressiv gegen vernünftige Menschen vorgehen, aber "a diabolical enemy is fair game." Im Forum der englischsprachigen Webseite Islamicity sagt ein Teilnehmer: "We abjure 'tolérance'. It is the doctrine of atheists and freemasons." ("Wir entsagen der 'Toleranz'. Es ist eine Doktrin von Atheisten und Freimaurern.")
Ungehört bleiben in diesen Internetforen anerkannte intellektuelle Islamisten wie der in Genf lebende Ägypter Tariq Ramadan, der nach den Anschlägen in New York sagte:
"Am meisten habe ich jedoch in der Tat Angst davor, dass die Muslime sich schließlich in ihrer Opferrolle gefallen, als ob es für uns darum geht, entweder als potentielle Verbrecher abgewiesen oder als arme Opfer beklagt zu werden. Wir müssen uns von dieser traurigen Alternative freimachen. Die schrecklichen Ereignisse zwingen uns, in angemessener Weise Selbstkritik zu üben und vor allem aufzuhören, die Schuld bei den Anderen zu suchen. Die Attentate haben gezeigt, wie sehr wir auch nach fünfzig Jahren Präsenz im Westen immer noch isoliert sind."
Verlust von Werten
Verschwörungstheorien entstehen typischerweise in Krisensituationen, in denen häufig das etablierte Wertesystem in Frage gestellt wird. "In unserer globalisierten Welt verschwinden viele Traditionen", sagt Nouripour.
"Obwohl die Menschen durch ihren Konsum zu dieser Entwicklung beitragen, haben viele emotional das Gefühl, dass ihre Lebensweise bedroht wird. Sie haben das Gefühl, nicht gleichberechtigt mitgestalten zu dürfen. Nehmen zu müssen und nicht geben zu können. Sie trinken Coca-Cola und sagen gleich darauf: Die USA machen unsere Kultur kaputt. Unter Umständen kann so ein widersprüchliches Gefühl mit dazu führen, dass Menschen Terrorismus emotional rechtfertigen."
In deutschen islamistischen Foren wurde übrigens auch darüber diskutiert, ob ein anständiger Muslim bei der Bundestagswahl wählen sollte. Viele votierten für die CDU. "Denn alle anderen Parteien wollen den Beitritt der Türkei zur EU. Aber es nützt uns nichts, wenn muslimische Länder 'von innen' aufgeweicht werden."
"Stellen wir uns doch mal eine Türkei in der EU vor: Offene Grenzen, Niederlassungsfreiheit für Nicht-Muslime, Missionarstätigkeit der Evangelikalen, Pornographie überall, antiislamische Propaganda, und so weiter. Wollen wir das?"
Die Linkspartei erntete dagegen Misstrauen: "Ich werde keine Atheisten wählen. Das ist von allen Übeln das größte", so ein Forumsteilnehmer.
Lennart Lehmann
© Qantara.de 2005
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