Über christliche Strophen im Koran
Wer hätte gedacht, daß ein so entlegenes und schwieriges Metier wie die Koranforschung einmal zu den heißesten Eisen gehören würde, die man schmiedet?
Diffizile Untersuchungen aus der Feder von in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Arabisten und Semitisten geraten im Zeitalter des "clash of civilizations", der in Wahrheit ein "Zusammenprall" mit dem Islam ist, unversehens in die Schußlinie - vor allem natürlich der Muslime, die bei einem solchen Unternehmen oft nicht wissenschaftlichen Erkenntnisdrang, sondern Feindschaft am Werke sehen.
Im Jahre 2000 erschien das Buch "Die Syro-aramäische Lesart des Korans" aus der Feder eines deutschen Semitisten unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg.
Der Forscher hatte behauptet, man könne einen Großteil jener Koranstellen, die unklar seien (etwa ein Viertel der mehr als 6.000 Verse), besser deuten, wenn man von einer ursprünglich aramäischen Sprachgestalt des Korans ausgehe beziehungsweise von einer Mischsprache, die jedenfalls noch nicht mit dem erst später vollständig ausgebildeten Hocharabischen identisch war.
Bei Luxenberg blieben unter anderem die "Huris" auf der Strecke, jene "Paradiesjungfrauen", die der Koran etwa den Märtyrern verheißt.
Unantastbarkeit des Textes wird infrage gestellt
Günter Lüling, deutscher Orientalist und Theologe, verbirgt sich nicht hinter einem "nom de plume". Seit vierzig Jahren bemüht er sich um ein angemesseneres Verständnis des heiligen Buches der Muslime. Und was er vorzubringen hat, ist brisant vor allem für jene, die immer auf der Unantastbarkeit von Texten und Überzeugungen beharren.
Bis jetzt sind es freilich weniger Muslime gewesen, die Lüling das Leben schwergemacht haben, als vielmehr Fachkollegen. Es ist bezeichnend, daß die Endfassung seines Lebenswerks über den Koran in englischer Sprache jetzt in einem indischen Verlag publiziert worden ist. Immerhin haben sich vom 21. bis 25. Januar in Berlin Arabisten und Koranforscher zusammengesetzt, um wenigstens über Luxenbergs Ansatz zu diskutieren. "Wir wissen noch viel zuwenig", lautete die vorläufige Bilanz.
Schon der englische Titel deutet an, worum es Günter Lüling vor allem geht: "A Challenge to Islam for Reformation". Diese Reformation des Islams ist nach Lülings Überzeugung nicht nur notwendig, sondern ohne eine kritische Sichtung des heiligen Textes, wie er - und andere - sie vornehmen, nicht möglich. Koranforschung wird somit auch eminent politisch.
Lüling setzt fort, was um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert schon einmal begonnen worden war, eine Koranexegese mit den historisch- kritischen Methoden der westlichen Wissenschaft, wie sie zum Beispiel Carlo de Landberg, Martin Hartmann und Karl Vollers angewandt hatten.
Zu jener Zeit war bereits vermutet worden, daß sich hinter Teilen des Korans christliche Hymnendichtung verberge. Schon in seiner Dissertation von 1970, die er 1974 erweitert als Buch mit dem Titel "Über den Ur-Koran" vorgelegt hatte, hatte Lüling den Weg beschritten, dem er seither treu geblieben ist. Er hat ihn ins akademische Abseits und in persönliche Not geführt, weil er Vorstellungen in Frage stellte, welche die Muslime in mehr als tausend Jahren liebgewonnen haben, aber wohl auch, weil er einigen Autoritäten der Koranforschung widersprach.
Christliche Dichtung im Koran?
Der Rezensent, der über die Fülle der Details und Argumente in Lülings Werk mit mehr als einem halben tausend Seiten nur staunen kann, vermag bloß zu referieren, was stupende Gelehrsamkeit da zusammengetragen hat.
Im Unterschied zur neuen angelsächsischen Schule der Koranforschung (Wansbrough-Revisionismus), die sich mit Zusammenstellungen des heiligen Buches zweihundert Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed (632 n. Chr.) "beschäftigt", glaubt Lüling, daß essentielle Teile des Korans schon vor dem Propheten existierten - eben als christliche Hymnen- und Strophendichtung.
Es ist seine Grundthese, die er als "Rekonstruktion" des Ur-Korans ansieht. Hätte Lüling recht, würde vieles über den Haufen geworfen, was Muslime bis heute für richtig halten: daß der Koran, wie er heute ist, vollständig dem Propheten geoffenbart worden ist und unter dem Kalifen Uthman, der zwischen 644 und 656 herrschte, zu einem im wesentlichen zuverlässigen Text zusammengefügt wurde.
Zwar fiel auch den muslimischen Exegeten des Korans bisweilen auf, daß viele Stellen unklar waren, und sieben Lesarten galten immerhin als tolerabel, doch hatten sie nicht jene historisch-kritischen Methoden zur Verfügung, welche die moderne Wissenschaft bereitstellt.
Urkoran noch ohne Hilfszeichen
Wie geht Lüling vor? Er legt die extrem defektive Schreibung des frühen Arabischen seinen Analysen zugrunde. Wie alle semitischen Sprachen gibt das Arabische in seiner Schrift im allgemeinen nur die Konsonanten und die langen Vokale wieder, die kurzen Vokale werden weggelassen. Der Koran wird allerdings, weil hier jeder Buchstabe wegen der Interpretation besonders wichtig ist, mit Hilfszeichen vokalisiert, die jedoch erst später aufkamen.
Dasselbe gilt für jene Punktation, die darüber entscheidet, ob ein Buchstabe ein b, ein t, ein th, ein n, ein s, ein sch, ein z oder r, ein f oder q ist. Die heute gebräuchliche arabische Schrift hat sich von einer nur andeutenden, quasi stenographischen Schreibweise im Laufe von Generationen zu einer mit Hilfe diakritischer Zeichen "vollständigen" Schrift entwickelt, ein Prozeß, wie er auch im Hebräischen unter den Masoreten stattfand.
Beitrag zum Dialog der Religionen
Man kann verstehen, welche Möglichkeiten der Mißlesung angesichts solcher Eindeutigkeitsmängel in der Schreibung denkbar sind. Wie Luxenberg geht es auch Lüling in seiner Forschung keineswegs darum, die islamische Religion zu destruieren, ganz im Gegenteil: Von seiner Rekonstruktion des Ur-Korans erwartet er sich vielmehr entscheidende Impulse auch für den christlich-islamischen Dialog, bilden doch seine Ergebnisse eine Brücke zwischen beiden Religionen, wie sie - recht verstanden - breiter kaum sein könnte.
Daß biblisches und christliches Traditionsgut im Koran vorkommt, daß Jesus darin als Vorgänger Mohammeds eine wichtige Rolle spielt, ebenso Maria und biblische Propheten oder Patriarchen, gehört zum Standardwissen über die Stiftungsurkunde des Islams, natürlich auch bei den Muslimen.
Mit vielen neuen Argumenten hat Lüling wichtige Teile des Korans als ursprüngliche christliche Hymnen (Responsorien) identifiziert und ihren exakten Wortlaut wiederherzustellen versucht, mit hochgelehrten Mitteln, die natürlich auch die Kenntnis vorislamischer Dichtung im Orient, ihrer Prosodie und sprachlichen Gestalt voraussetzt. Auch unter den altarabischen Poeten gab es Christen, wie überhaupt der Komplex einer vorislamischen oder altarabischen Beduinendichtung und ihrer Sprachebene und Grammatik zu den interessantesten, aber auch besonders strittigen Themen in der Forschung gehört.
Proteste gegen Taha Hussain
Taha Hussain hatte schon im vorigen Jahrhundert Zweifel an der vollständigen Authentizität dieser Dichtung, so wie sie vorliegt, geäußert; und er war es auch, der vermutet hatte, im Koran fänden sich "metrische Kompositionen" aus der Zeit vor Mohammed. Die Proteste waren groß.
Lüling geht Texte wie die Suren 96, 80 und etliche andere mit seiner Methode an. Es führte zu weit, die Rekonstruktionen etwa bestimmter "mißlesener Verbformen" im einzelnen aufzuführen, doch ergeben sich durch Neulesungen etwa zahlreicher eschatologischer Stellen inhaltliche Veränderungen, die einsichtiger an altes religiöses Traditionsgut anknüpfen als die bisherigen, für unantastbar gehaltenen Lesungen und somit auch religionsgeschichtliche Kontinuität herstellen.
Wolfgang Günter Lerch
© Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2004
Günter Lüling: A Challenge to Islam for Reformation. Verlag Motilal Barnasidass, New Delhi 2003. 580 Seiten (lieferbar per Seepost, Telefax-Nr. 00 91/11/23 93 06 89)