Intensivkurs ''Muslimisches Leben''

Mit dem Projekt "Koranschule" des Mannheimer Nationaltheaters auf Erkundungstour: Die ungewöhnliche Initiative der Regisseurinnen Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder eröffnet Einblicke in das muslimische Leben in Deutschland, das Außenstehenden im Alltag meist verborgen bleibt. Von Susanne Kappe

Dreißig Mehrheitsdeutsche sitzen eng zusammengedrängt im Wohnzimmer eines religiösen türkischstämmigen Familienvaters mit Vollbart und lauschen gebannt seiner Lebensgeschichte. Klingt unwahrscheinlich, finden Sie? Kommt aber vor – wenn Sie sich in Mannheim auf das Abenteuer "Koranschule" einlassen.

Beim Projekt des Mannheimer Nationaltheaters unter der Leitung der Regisseurinnen Nina Gühlstorff und Dorothea Schroeder lernen Theaterbesucher Orte und Menschen in ihrer Stadt kennen, mit denen sie bislang wohl kaum in Berührung kamen. Es ist ein Intensivkurs zum Thema Islam und Migration in Deutschland – und zwar zum Anfassen, Mitmachen und Erleben. In 16 Lektionen zum Korandiplom – das vielleicht nicht, aber zu einem tiefen Einblick in den Alltag von Muslimen in Deutschland, das ganz sicher.

Gegen Vorbehalte und Klischees

Der Titel des Projektes "Koranschule" könnte bei einigen Theatergästen zunächst einmal unerfreuliche Assoziationen hervorrufen. Doch damit spielen die Macher bewusst. Es soll sich ja auf Ungewohntes eingelassen und vorgefertigte Meinungen herausgefordert werden.

Bektas Cezik; Foto: Christian Kleiner
Die Offenbarungsgeschichte des Koran im Mannheimer Dialekt: Die verschiedenen Aspekte des islamischen Glaubens werden im Theaterprojekt Koranschule für die Mannheimer Bürger direkt erfahrbar.

​​Der Lernaspekt kommt natürlich hinzu. Deshalb ist das Stück auch in Lektionen gegliedert – an verschiedenen Orten werden unterschiedliche Themen als Unterrichtseinheiten behandelt.

Für die Nicht-Muslime geht es darum, im Umgang mit Muslimen ihre Scheu zu verlieren und Alltagshindernisse bei Themen wie Weintrinken und Händeschütteln zu überwinden. Für die Muslime, die in dem Stück zu Wort kommen, ist Bildung ein wichtiges Element in ihrem Glauben. Sie mussten selbst erst einmal lesen und sich eine Meinung darüber bilden, was es heißt, Muslim zu sein.

Der Unterricht beginnt auf dem Vorplatz des Nationaltheaters, wo erst einmal allen neugierigen Theaterbesuchern ein muslimischer Vorname verliehen wird. Aus Klaus wird Musab, aus Michaela Suveda und aus Martin Cihad. Nicht so leicht für einen Christian, plötzlich in der Haut eines Hassan zu stecken. Aber sofort wird klar, worum es geht: richtig tief einzutauchen in den muslimischen Alltag, ohne große Vorüberlegungen, ohne Vorbehalte und vor allem ohne Angst.

Zuerst dürfen die Besucher ihre Vorstellungen und Vorurteile gegenüber dem Islam im Brainstorming loswerden – vom Fasten bis zu den Salafisten –, dann wird sich sogleich daran gemacht, sie an der Realität zu prüfen. Im Taxi (dass der Fahrer arabisch aussieht und Tahir heißt, ist wahrscheinlich Zufall) geht es ab in den Jungbusch, ein Stadtviertel mit einem ähnlichen Ruf wie Neukölln in Berlin – migrantisch, problematisch, arm. Dass an all dem etwas dran sein mag, das erfahren die Besucher heute aus nächster Nähe. Aber sie werden ihren Eindruck bereichern um Freundlichkeit, Offenheit, Vielfältigkeit und Lebensfreude.

Vielfältige Lebenswelten des Islam

Das vermittelt nicht nur der Weihnachtsgruß der sunnitischen Gemeinde, der als Poster in der Fatih-Moschee an einer Säule klebt. Oder der Imam, der im Mannheimer Dialekt die Offenbarungsgeschichte des Koran erklärt und den geduldigen Zuhörern Gummibärchen als Belohnung verspricht. Auch die Kinder, die draußen auf dem Spielplatz lärmen, während man im eindrucksvollen Gebetssaal der Moschee sitzt, und die Hip-Hop-Musik, die durch die Straßen tönt, wecken den Eindruck von sprühendem und ganz normalem Leben.

Wie vielfältig der Islam gelebt werden kann, zeigt sich in individuellen Porträts von Mannheimer Muslimen, deren persönliche Geschichten von den Theaterschauspielern intensiv dargestellt werden:

Klaus Rodewald und Publikum; Foto: Christian Kleiner
Abenteuer "Koranschule": Dreißig Mehrheitsdeutsche sitzen eng zusammengedrängt im Wohnzimmer eines religiösen türkischstämmigen Familienvaters mit Vollbart und lauschen gebannt seiner Lebensgeschichte.

​​Eine junge Frau schwingt im Friseursalon ihre lange Mähne und erklärt, wie wichtig ihr Glaube für sie ist und dass sie sich da von niemandem hineinreden lässt – auch nicht von ihrer Familie. Am Konferenztisch in der Werbeagentur zeigt der engagierte Chef seine Enttäuschung darüber, wie das gute Verhältnis zur Lehrerin seiner Kinder am Ganzkörperschleier seiner Frau zerbrach.

Eine aus dem Irak geflohene Frau erzählt in gebrochenem Deutsch vom bedrückenden Leben im Asylantenheim und der friedvollen Ruhe in einer Kapelle, die sie zum Weinen brachte. Der tiefreligiöse Familienvater, der die Gäste im Wohnzimmer empfängt, glaubt zwar nicht daran, dass die Christen ins Paradies kommen, aber wünscht sich sogar "dass der Koran nicht stimmt, damit ihr auch ins Paradies kommt".

Fiktion für die Einen, Glaube für die Anderen

Der Rückweg zum Nationaltheater wird dann lebensnah mit der Straßenbahn zurückgelegt. Dort ruft über Lautsprecher ein echter Muezzin zum Gebet – der letzten großen Herausforderung für die lerneifrigen Erkunder. Für jeden, der sich traut (und für die Gläubigen sowieso), heißt es, Schuhe ausziehen, Gebetsteppich ausrollen, dem Imam die Bewegungen nachmachen, Learning-by-doing, Kennenlernen, Hemmschwellen überwinden.

Fiktion für die Einen, Glaube für die Anderen. Das Abschlussgebet dient als Selbstversuch: Wie offen bin ich? Kann ich mich auf Fremdes einlassen? Ein Diplom gibt es am Ende zwar nicht, aber einen dicken Applaus für das Engagement zum Kennenlernen und Verstehen.

Die "Koranschule" ist auf Initiative des Mannheimer Nationaltheaters entstanden, das regelmäßig Stadtprojekte außerhalb des Theaters oder unter Beteiligung von Bürgern durchführt. Auch die beiden Regisseurinnen haben schon in mehreren Städten interviewbasierte Stadtprojekte inszeniert.

Dass in Mannheim das Thema Islam gewählt wurde, ist naheliegend. Zum einen ist hier mit der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee eine der größten Moscheegemeinden Deutschlands angesiedelt und Ausländer sind insgesamt sehr präsent im Stadtbild. Zum anderen fehlt aber auch hier der alltägliche Kontakt zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und man stößt auf die gleichen Ressentiments wie anderswo in Deutschland.

Betende in der Yavuz-Sultan-Selim-Moschee in Mannheim; Foto: Christian Kleiner
Interkulturelle Metropole Mannheim: In der zweitgrößten Stadt Baden-Württembergs leben rund 30.000 Muslime, deren Yavuz-Sultan-Selim-Moschee eine der bundesweit größten islamischen Gotteshäuser ist.

​​Etwa fünfzig Interviews haben die Regisseurinnen mit Menschen unterschiedlicher Herkunftsorte und Glaubensrichtungen geführt. Daraus sind Monologe für die Schauspieler entstanden, die Stimmen wiedergeben sollen, die ansonsten in der Öffentlichkeit wenig gehört werden. Dabei spielt der lokale Kontext eine große Rolle. Es geht konkret um das Leben und die Glaubenspraxis von Muslimen in Mannheim, nicht um einen abstrakten Islam in Europa.

Hervorragende Kooperation

Die Kooperation mit den muslimischen Gemeinden habe hervorragend geklappt, berichtet Dramaturg Jan-Philipp Possmann. Dass letztlich nur in einer Moschee gespielt werde, liege keinesfalls am Desinteresse anderer Gemeinden, sondern nur am zeitlichen Rahmen, der eingehalten werden müsse.

Einwände gab es im Vorfeld kaum gegen das Projekt. Einige Kommentatoren bemängelten, dass die Inszenierung der Religion nicht mit der nötigen kritischen Distanz begegne. Dem hält Possmann entgegen, dass im zeitgenössischen Theater kaum jemals eine muslimische Figur auftrete. "Wir haben die ganze Zeit christliche Figuren und christliche Themen auf der Bühne und es gibt nie jemanden, der sagt, wir begegnen dem nicht mit der nötigen Distanz. Für uns war es erstmal wichtig, sich überhaupt einmal mit dem Thema zu beschäftigen."

Das ist auch das Hauptziel des Projektes: an ein unbekanntes Thema heranführen, Wissen zu vermitteln und dadurch Vorurteile abzubauen. Mit einfachen und teilweise sehr privaten Fragen: "Was bedeutet es, Kopftuch zu tragen? Wie fühlt es sich an, Muslim zu sein?"

Dass die Perspektive dabei eine nicht-muslimische ist, ergibt sich ganz logisch aus dem Entstehungskontext des Projekts. Und auch darüber, dass 90 Prozent der Zuschauer Nicht-Muslime sind, geben sich die Macher keinen Illusionen hin.

Was sie sich wünschen, ist jedoch, dass ein Prozess in Gang gebracht wird zwischen der muslimischen Community, die am Stück beteiligt ist, und den Besuchern, die einander an dem Abend begegnen. Wenn die, die an dem Abend dabei waren, ihre Umwelt anders wahrnehmen, hat die "Koranschule" ihren Zweck erfüllt. Alle werden versetzt. Nächstes Lernziel: Umsetzen im eigenen Alltag.

Susanne Kappe

© Qantara.de 2012

Das Stück läuft insgesamt zehnmal im Mai, Juni und Juli am Nationaltheater Mannheim.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de