„Genehmigungen sehr wahrscheinlich rechtswidrig“

Qantara: Frau Löwenbrück, welche Rolle spielt Deutschland bei der Versorgung Israels mit Rüstungsgütern?
Lilian Löwenbrück: Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Rüstungsexporteur an Israel. Etwa 30 Prozent der von Israel importierten Rüstungsgüter stammen aus Deutschland.
Wie haben sich Deutschlands Rüstungsexporte nach Israel seit dem 7. Oktober 2023 entwickelt?
Die Beziehung zwischen Deutschland und Israel war schon immer auch militärisch stark, aber nach dem 7. Oktoberhat sie sich intensiviert. Unmittelbar nach den Angriffen hat Deutschland die Waffenexporte erheblich erhöht. Allein im Oktober 2023 wurden Rüstungsgüter im Wert von über 203 Millionen Euro genehmigt. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 waren es 326,5 Millionen Euro. Der Großteil kam also unmittelbar nach dem 7. Oktober.
Im Folgejahr ging der Umfang in den ersten Monaten merklich zurück. Aber ab Herbst 2024 stiegen die Genehmigungen wieder an.

Wie lassen sich diese Schwankungen erklären?
Dass die Exportgenehmigungen Anfang 2024 runtergefahren wurden, kann unterschiedliche Gründe haben. Zum einen waren direkt nach dem 7. Oktober schon sehr viele Exporte genehmigt worden. Zum anderen wurde die Kriegsführung Israels schon früh international kritisiert.
Ende Dezember 2023 klagte Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und warf Israel die Verletzung der Völkermordkonvention vor. Im März 2024 kam eine Klage von Nicaragua gegen Deutschland vor dem IGH dazu. Nicaragua warf Deutschland vor, durch Waffenlieferungen an Israel gegen die Völkermordkonvention und gegen humanitäres Völkerrecht zu verstoßen. Ab März 2024 setzten sich außerdem mehrere Einzelpersonen aus Gaza vor deutschen Verwaltungsgerichten gegen die deutschen Exportgenehmigungen zur Wehr.
All das könnten Gründe für die vorübergehende Zurückhaltung gewesen sein. Im vergangenen Herbst hat sich das dann jedoch wieder drastisch geändert. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte offensiv, dass Deutschland Waffen an Israel geliefert hat und liefern wird.
Während bis Mitte September nur Rüstungsgüter im Wert von 14,5 Millionen Euro genehmigt worden wurden, waren es zum Jahresende hin mehr als 146,5 Millionen Euro in nur drei Monaten. Und auch im ersten Quartal 2025 wurden mehr Rüstungsgüter genehmigt als im Vorjahreszeitraum.

Deutschland auf der Anklagebank
Der Internationale Gerichtshof in Den Haag prüft einen schweren Vorwurf Nicaraguas: Deutschland leiste durch seine Unterstützung Israels "Beihilfe zum Völkermord" an den Palästinensern im Gazastreifen.
Was genau wird aktuell exportiert?
Soweit wir wissen wurden seit Februar 2024 keine Kriegswaffen mehr genehmigt, sondern sonstige Rüstungsgüter. Kriegswaffen sind Waffen, die in der Anlage zum Kriegswaffenkontrollgesetz gelistet sind, zum Beispiel Panzer, Panzerfäuste, Bomben und bestimmte Munition. Sonstige Rüstungsgüter können Bestandteile von Kriegswaffen sein, beispielsweise Getriebe für Panzer oder Software für Drohnen.
Deutschland hat sich in dem Nicaragua-Verfahren damit verteidigt, dass 98 Prozent der deutschen Genehmigungen für sonstige Rüstungsgüter waren – als wären diese ungefährlich. Dabei ist auch ein Panzergetriebe sehr relevant für die Kriegsführung.
Welche Regeln gelten für den Export?
Sowohl für Kriegswaffen als auch für sonstige Rüstungsgüter gelten völkerrechtliche Verpflichtungen, wobei diese im Kriegswaffenkontrollgesetz am deutlichsten festgeschrieben sind. Darin steht, dass die Genehmigung zu versagen ist, wenn Grund zur Annahme besteht, dass die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde.
Da der Genehmigungsprozess aber vollkommen intransparent ist, können wir nicht nachvollziehen, wie eine Entscheidung zustande kommt. Wir können nur nachträglich durch das parlamentarische Fragerecht herausfinden, was genehmigt wurde. Das sagt nicht automatisch etwas über die tatsächliche Lieferung aus, denn diese findet manchmal sofort nach der Genehmigung statt, manchmal dauert es aber auch länger.
Inwiefern ist die Intransparenz problematisch?
Wenn man nicht genau weiß, was gerade genehmigt oder geliefert wird, ist es schwierig, den Gegenstand einer etwaigen Klage genau zu benennen. Auch wenn es sehr wahrscheinlich rechtswidrig erteilte Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter gibt, ist der juristische Weg, dagegen vorzugehen, enorm erschwert.

Können Sie Beispiele nennen?
Das ECCHR hat Personen aus Gaza bei verschiedenen Verfahren unterstützt. Im April 2024 ging es zum Beispiel um die Ausfuhrgenehmigung von Panzerfäusten. Es war bekannt geworden, dass die israelische Armee diesen Waffentyp in Gaza verwendet. Im Verfahren stellte sich heraus, dass Deutschland die Genehmigung für 3.000 Panzerfäuste im Oktober 2023 erteilt und sie im November schon geliefert hatte. Das Eilverfahren kam also zu spät und lief ins Leere.
In einem weiteren Verfahren im Mai 2024 beantragten Betroffene aus Gaza, dass keine weiteren Genehmigungen für Kriegswaffen erteilt werden dürfen, solange die Militäroperation in Gaza andauert. Das Gericht hat den Antrag aber abgelehnt. Die Begründung war, dass zum damaligen Zeitpunkt keine Genehmigungsverfahren für Kriegswaffen offen waren. Es hielt den Antrag also für verfrüht.
Daraufhin forderten die Antragssteller aus Gaza, benachrichtigt zu werden, sobald eine neue Genehmigung für Kriegswaffen erteilt wird. So könnten sie sich rechtzeitig zur Wehr setzen. Doch das wurde ebenfalls abgelehnt, wegen Geheimhaltungsinteressen der Bundesregierung. Das Gericht verneinte zudem einen rechtlichen Anspruch der Antragsteller auf diese Information. Effektiver Rechtschutz bei Gefahr für Leib und Leben sieht unserer Ansicht nach anders aus.
Ist es dann überhaupt möglich, gegen die Exporte vorzugehen?
Das hängt leider oft vom Zufall ab. In einem aktuellen Verfahren unterstützt das ECCHR einen Antragssteller aus Gaza, der sich gegen Ausfuhrgenehmigungen von deutschen Panzergetrieben wehrt.
Der Spiegel hatte im Oktober 2024 ausführlich über zwei kurz zuvor erteilte Ausfuhrgenehmigungen von Panzergetrieben der deutschen Rüstungsfirma Renk berichtet. Dadurch war es möglich, sich spezifisch gegen diese beiden Genehmigungen zu wehren, und zwar rechtzeitig vor der Auslieferung.
Das Verfahren läuft noch. Es wurde auf der ersten Stufe vom Verwaltungsgericht Frankfurt abgelehnt. Jetzt sind wir im Beschwerdeverfahren beim Verwaltungsgerichtshof in Kassel.
Am Verwaltungsgericht geht es darum, zukünftige Lieferungen zu verhindern. Es gibt aber auch die Möglichkeit, Entscheidungsträger*innen im Nachhinein für rechtswidrige Lieferungen anzuzeigen – in Deutschland mithilfe des Völkerstrafgesetzbuchs oder auf internationaler Ebene am IStGH. Wen könnten das betreffen?
Die politischen Entscheidungsträger*innen, die die Genehmigungen erteilen und die Ausfuhr ermöglichen, könnten wegen Beihilfe zu Völkerstraftaten wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord zur Verantwortung gezogen werden.
Das wären zum Beispiel die Mitglieder des Bundessicherheitsrates, zu denen der Bundeskanzler, der Wirtschaftsminister, die Außenministerin und der Verteidigungsminister zählen. Aus unserer Sicht ist auch möglich, dass Manager*innen von Rüstungsunternehmen sich der Beihilfe zu Völkerstraftaten schuldig machen.

Plädoyer gegen Verklärung
Der Historiker Daniel Marwecki legt mit seinem Buch einen wichtigen Debattenbeitrag vor, der die vielfältigen Motive in den gesamten deutsch-israelischen Beziehungen analysiert. René Wildangel hat das Buch für Qantara.de gelesen.
Ist Deutschlands Exportpraxis gegenüber Israel besonders? Oder genehmigt Deutschland auch in anderen Kontexten fragwürdige Rüstungsexporte?
Auch in anderen Kontexten sind die Kontrollmechanismen unzureichend, wird das Völkerrecht bei Genehmigungsentscheidungen ignoriert und erschweren mangelnde Informationen die gerichtliche Kontrolle. Der Fall Israel ist insofern besonders, als die Kriegsführung in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 von einer Vielzahl an Organisationen und Expert*innen juristisch bewertet und kritisiert worden ist.
Die Vereinten Nationen haben wiederholt vor einem Völkermord gewarnt und dazu aufgerufen, Waffenlieferungen an Israel einzustellen. Der IGH sieht ein plausibles Risiko, dass Israel Rechte aus der Völkermordkonvention verletzt. Und der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen. Da ist es schon erstaunlich, dass die Bundesregierung sich offen zu weiteren Waffenlieferungen bekennt.
Seit Dienstag führt Friedrich Merz eine neue Bundesregierung aus Christ- und Sozialdemokraten an. Was ist zu erwarten?
Im Koalitionsvertrag wurde eine Rüstungsexportpolitik formuliert, die der deutschen Industrie Verlässlichkeit gibt und sich ausdrücklich an den Interessen der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik ausrichtet. Es soll raschere Prüfungen von Exportgenehmigungen geben.
Das legt nahe, dass völkerrechtliche und menschenrechtliche Risiken noch weniger streng geprüft werden. Es ist zu befürchten, dass die Interessen von betroffenen Zivilpersonen noch weiter hinter die Interessen der Rüstungsindustrie zurückfallen.
Waffenlieferungen nach Israel werden im Koalitionsvertrag nicht explizit erwähnt. Aber Merz hat bereits angekündigt, dass er Wege und Mittel finden wird, Netanjahu in Deutschland zu empfangen, ohne dass er verhaftet wird. Das spricht dafür, dass die militärische Unterstützung Israels nicht nur fortgeführt, sondern vielleicht sogar ausgeweitet wird.
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