Die mühsame Mäßigung der Engstirnigen
"Schau mal genau auf die Frau", sagt Khaled. So viel ist von ihr eigentlich gar nicht zu sehen. Nur die Augen und ihre Hände. "Moderne Familien erkennt man daran, dass die Frauen keine schwarzen Handschuhe mehr tragen", fügt Khaled hinzu.
In Buraida ist so etwas eine Kulturrevolution. Wie auch die Frau, die eben ohne männliche Begleitung zum Eingang des Einkaufszentrums schreitet. Nach wie vor sind diese in der saudi-arabischen Stadt für unverheiratete Männer verbotenes Terrain. Deshalb treffen sich die drei Freunde Khaled, Salman und Faisal auch in dem Café mit der Anmutung einer "Starbucks"-Filiale. Durch die hohen Fenster kann man zwar das Geschehen auf dem Platz verfolgen - von draußen kann man aber nicht nach drinnen schauen. So ist es oft in Saudi-Arabien, die Privatsphäre wird abgeschottet.
Die drei Freunde sprechen von Öffnung und Veränderung. Sie kommen auf die Zeitenwende zu sprechen, die in Buraida vor fünf Jahren einsetzte. Vor fünf Jahren wurde das Café als erstes seiner Art in der Stadt eröffnet. Das "Frühlingsfestival", von dem sie gerade kommen, findet seit fünf Jahren draußen in der Wüste statt. Der Fremde, den sie an diesem Tag treffen, hätte vor fünf Jahren noch gar nicht in die Stadt reisen dürfen.
Fromme, aber moderne Muslime
Buraida liegt abgeschieden in der Mitte der Arabischen Halbinsel. Die Stadt war stets für ihre gelehrten Theologen und erfolgreichen Fernhändler bekannt, für die größten Dattelplantagen des Landes und den Kamelreichtum ihrer Einwohner.
In jüngerer Vergangenheit waren Buraida und die Provinz Qassim aber vor allem als Hort des Dschihadismus berüchtigt. An keinem anderen Ort hatte Al-Qaida mehr junge Männer und junge Frauen rekrutiert als hier. Vor etwa fünf Jahren ist jedoch alles anders geworden. Heute wollen Buraidas Einwohner fromme, aber auch moderne Muslime sein.
Seit Menschengedenken sind die Einwohner der Stadt konservativ und die eifrigsten Anhänger der streng puritanischen Glaubenslehre des Wahhabismus, die immer noch die Grundlage der religiösen Praxis und des Staatsverständnisses Saudi-Arabiens ist. Schon seit 1929 hat die Königsfamilie in der Stadt einen schweren Stand. Damals stellte sich König Abdalaziz Al-Saud, der Gründer des nach seiner Familie benannten Königreichs, gegen die Miliz der "Ikhwan", mit der er die Arabische Halbinsel unterworfen und geeint hatte.
Der König, ein Realpolitiker, stand unter dem Druck der Briten und wollte seine Kämpfer von weiteren Raubzügen im Namen des Islams abhalten. Er schlug die Rebellion der "Ikhwan" nieder - lediglich Religionsgelehrte aus Buraida ergriffen Partei gegen den König und für die besonders religiösen "Ihkwan".
Als der Reformkönig Faisal 1965 in Saudi-Arabien das Fernsehen einführte, stürmten islamistische Eiferer das Fernsehstudio in Buraida. Nach dem Einmarsch der Truppen Saddam Husseins 1990 in Kuweit formierte sich hier der Widerstand gegen die amerikanischen Truppen, die der König ins Land gerufen hatte. Prediger wie der in Buraida geborene Salman al-Auda stellten offen die Herrschaft der Al-Saud in Frage und wurden damit populär. Vier Jahre später kam es in Buraida zu Protestmärschen und Unruhen. Die Soldaten des Königs griffen hart durch und verhafteten unter anderen auch Auda.
Der Prediger wurde 1999 wieder frei gelassen, musste allerdings geloben, die Königsfamilie fortan nicht mehr zu kritisieren. Seither wandert Auda, der weiter einer der populärsten Prediger des Landes ist, auf dem schmalen Grat zwischen Loyalität und Kritik. Das bot Raum für eine neue Generation radikaler Prediger, die das Königreich Saudi-Arabien abschaffen wollten und Al-Qaida unterstützten. Im Mai 2003 wurden die meisten von ihnen inhaftiert. Das hat den Zulauf für Al-Qaida in Buraida gebremst, aber nicht gestoppt.
Noch immer hebt die Regierung hier Al-Qaida-Zellen aus. Den letzten großen Schlag führten die Sicherheitsbehörden 2009. Im vergangenen Jahr war in Buraida nur noch ein Vorfall mit Al-Qaida in Verbindung gebracht worden. Damals töteten Unbekannte einen saudischen Polizisten; das Terrornetz bekannte sich später zu dem Verbrechen.
Keine Legitimation
Der amerikanische Antiterrorfachmann Mike Tucker, der seit Jahren auf der Arabischen Halbinsel lebt, erklärt den abrupten Wechsel, der sich in den Köpfen der Menschen vollzogen hat, so: Entscheidend sei nicht die harte Hand der Antiterroreinheiten gewesen, sondern der Einfluss der Scheichs der wichtigen Stämme - sie sind die tragenden Säulen der Gesellschaft -, die in den Moscheen gegen Al-Qaida und den Dschihad gepredigt hätten.
"Ich sage euch von Muslim zu Muslim", hämmerten die angesehenen Stammesältesten der Jugend ein, "springt nicht auf diesen Zug auf, denn er führt in eine Sackgasse." Stattdessen sollten die Jungen die Gesellschaft aufbauen helfen. Dass Al-Qaida und der Dschihad in der Moschee irgendwann keinen Zufluchtsort mehr fanden und dort keine Legitimation mehr erhielten, sei "der wahre Sieg über Al-Qaida" gewesen, sagt Tucker. Es werde aber eine Generation brauchen, bis sich das Denken geändert hat.
Dass der dschihadistische Sumpf in Buraida ausgetrocknet wurde, ist auch ein Verdienst der neuen Bildungspolitik. Die saudische Regierung stampfte hier 2004 zügig eine moderne Universität aus dem Wüstenboden. Sie bietet den Jugendlichen eine Alternative zur alten theologischen Fakultät. Während auf dem großen Campus, in getrennten Einrichtungen für Männer und Frauen, schon mehr als 45 000 junge Saudis Fächer wie Ingenieurswissenschaft, Ökonomie oder Medizin studieren, sind es in der theologischen Fakultät keine 10.000 mehr.
Auch die drei Freunde aus dem Café studieren hier. Sie geben sich nicht länger mit der Vergangenheit ab, sie planen ihre Zukunft, tauschen sich über Facebook mit ihren Freunden aus - und mit ihren Freundinnen. "Ich will doch nicht mehr, dass meine Familie die Frau aussucht, die ich heiraten soll", sagt Khaled. Sobald er sich über Facebook für eine junge Frau entschieden hat, werde er seine Mutter bitten, den Kontakt zu ihrer Familie herzustellen. Salman ist mehr mit seinem Umzug nach Chicago beschäftigt.
"Das hier ist doch kein Leben", schimpft er. Mal ins Kino gehen, sich ungezwungen mit Mädchen treffen, dass müsse doch möglich sein. Ein Jahr muss er sich in Chicago selbst finanzieren. Dann, so sagt er, bekomme er sicher ein "König-Abdullah-Stipendium".
Mit dem großzügigen Stipendienprogramm des Königs studieren bereits 125.000 saudische Studenten und Studentinnen an westlichen Hochschulen. Da seufzt Faisal nur resigniert. Er bleibe hier. Wer solle sich sonst um seine Eltern kümmern. Und schließlich wandle sich Buraida ja zum Besseren.
Der Campus der Universität ist modern, weitläufig und bestens ausgestattet, ganz wie seine amerikanischen Vorbilder. Die hohen Gewölbe erinnern an gotische Kathedralen, der zentrale Platz unter der großen lichtdurchfluteten Kuppel an eine italienische Piazza. Englisch ist in den meisten Fächern die Unterrichtssprache, neben einer Vielzahl von Dozenten aus der arabischen Welt unterrichten auch mehrere Dutzend westliche Lehrer.
Ziel sei ein normaler und täglicher Umgang der Studenten mit Ausländern, heißt es auf dem Campus. Damit würden Vorurteile abgebaut, es entstehe Vertrauen. Die Lehrkräfte aus Europa und Amerika fühlen sich sicher in der Stadt mit dem schlechten Ruf.
Ein unbequemer Gegner
Ganz so wie im Westen ist der Unterricht natürlich nicht. Denn auch hier sind die meisten Studenten sehr religiös. Wenn er ein Video zeige, in dem eine unbedeckte Frau zu sehen sei, frage er vorher, ob alle einverstanden seien, und manchmal lehne das der eine oder andere Student ab, sagt ein Dozent. Sie lachen aber alle, wenn das Gespräch auf die theologische Fakultät kommt. Sie liegt weit weg von diesem Campus. Dort seien die Fanatiker unter sich, Fremde sollten dort besser nicht hingehen.
Yusuf studiert an der theologischen Fakultät, und er kann diese Vorurteile nicht verstehen. Zwar trägt er die Kleidung der "trefflichen Altvorderen", der Gefährten des Propheten. Ein Fanatiker will Yusuf nicht sein - aber er gesteht ein, dass Al-Qaida unter den Professoren und Studenten viele Sympathisanten hatte. Doch heute habe man dem "blutigen Dschihad" abgeschworen, verfolge nur noch den "friedlichen Dschihad". In einer kleinen Oase weit draußen in der Wüste erläutert Abdulkarim al Khadr, ein entlassener Professor für Theologie, die Ausführungen des Studenten Yusuf.
Er spricht das klare, kunstvolle Hocharabisch der islamischen Gelehrsamkeit, zitiert den Koran und die Sprüche Mohammeds. Der Prophet selbst habe gesagt, die Bekämpfung der Laster im eigenen Land sei verdienstvoller als die Bekämpfung der Ungläubigen im Ausland. Es sei doch die Königsfamilie, die ständig vom blutigen Dschihad spreche, um die berechtigten Reformforderungen im Königreich zu diskreditieren.
Der Dissident und Vorsitzende der nicht zugelassenen "Saudischen Vereinigung für zivile und politische Rechte" fordert Reformen, doch damit meint er nicht die Öffnung der Gesellschaft. Der gestrenge Islamist will einen Wandel der politischen Ordnung.
Die meisten Theologen Saudi-Arabiens hielten sich von der Politik fern, folgten wie Lämmer der königlichen Familie, spottet er. Sie beschmutzten das Andenken an die "trefflichen Altvorderen", indem sie blinden Gehorsam gegenüber dem Herrscher forderten, von Rechten für alle aber nichts wissen wollten. Von Regimewechsel will er jedoch nicht reden - schon gar nicht von Terrorismus. Für die Regierung ist er damit ein unbequemer Gegner.
Allein aus der Provinz Qassim seien gegenwärtig mehr als 5.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, meist ohne Gerichtsverfahren, behauptet der entlassene Professor und verneint energisch, dass es sich um Al-Qaida-Terroristen handele. Sein 17 Jahre alter Sohn sitze seit zwei Jahren im Gefängnis, nur um ihn, Abdulkarim al Khadr, mundtot zu machen.
Schweigen will er dennoch nicht. Seine Internetseite wird in regelmäßig gesperrt und unter neuem Namen rasch wieder eröffnet. "Twitter hat uns Freiheit verschafft", sagt der politisch engagierte Theologe. Wenn ihn Mitteilungen erreichen, in denen es etwa heißt: "der Großmufti ist ein Lügner", dann nickt er zustimmend.
Für viele Jugendliche, für Leute wie Khaled, Salman und Faisal aus dem Café, sind solche Diskussionen nur das Gezänk alter Männer. Sie wollen Freude am Leben haben, verbringen ihre Zeit damit, ihre Autos zu dröhnenden Rennwagen zu frisieren, mit denen sie in der Wüste gegeneinander antreten. Etwa beim jährlichen Frühlingsfest, dem Großereignis, zu dem sogar der Provinzgouverneur kommt.
Tribünen gibt es auf dem Gelände hier nicht. Die Jugend parkt ihre Geländewagen an den Hängen und verfolgt von dort die Wettbewerbe. Einige kommen sogar in Jeans. In einer Zeltstadt daneben bereiten die Frauen lokale Speisen zu. Im Hintergrund singt ein Barde einfache Lieder. Ein Instrument begleitet ihn nicht. Das würden die "Mutawwa", die wegen ihres rabiaten Auftretens einst gefürchteten Religionspolizisten, nicht dulden.
In einer Ecke haben sie zwei ihrer Autos geparkt, offenbar zur Abschreckung. Zu sehen ist aber keiner von ihnen. Die Saudis hatten einst die Einwohner von Buraida wegen ihrer Engstirnigkeit "Mutawwa" genannt. Womöglich müssen sie sich bald einen neuen Namen einfallen lassen.
Rainer Hermann
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de