Viele Facetten des Islam in Europa
Mit seiner Eröffnungsrede “Kulturelle und Politische Orientierungen des Islam in Europa” startete Prof. Sami Zubaida vom renommierten Birbeck College (University of London) das internationale Forschungsprojekt zu Islamischer Kultur und Moderner Gesellschaft. An dem über zwei Jahre laufenden Projekt, das das Kulturwissenschaftliche Institut der Universität Essen organisiert, werden verschiedene Akademiker der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft teilnehmen.
Prof. Zubaida wies gleich zu Beginn seines Vortrages darauf hin, dass der Islam im Laufe der letzten Jahre zu einem festen und vielschichtigen Bestandteil der europäischen Kulturlandschaft gewachsen sei – und das, obwohl der öffentliche Diskurs sowie die Medien dazu neigen, den Islam als eine monolithische Einheit wahrzunehmen und darzustellen, welche sich eindeutig vom Westen abgrenzt, ihm sogar feindlich gegenüber steht. Dabei werde “der Westen” als ebenso monolithisch wahrgenommen und dargestellt – im Gegensatz zum Islam aber als einheitlich tolerant und demokratisch. Diese Schematisierung, so Zubaida, werde durch aggressive Stellungnahmen europäischer Muslime verstärkt, mit der sie – sowohl politisch als auch theologisch – die Einheit und Gleichförmigkeit einer universellen Umma postulieren, welche sich vom Westen absetzt, der als feindliches Gegenüber begriffen wird. All diese Auffassungen, so Zubaida, würden der Wirklichkeit nicht im Mindesten gerecht. Im Gegenteil: die muslimische Gemeinschaft im Westen, wie auch überall sonst in der Welt, ist auf ihren unterschiedlichsten Ebenen differenziert, in verschiedene religiöse und säkulare Auffassungen und Lebensformen – wie etliche Erfahrungswerte und zahlreiche Forschungsergebnisse belegen.
Zubaida stellte fest, dass muslimische Gemeinschaften im Westen, die ihren Ursprung in Gastarbeiterfamilien haben, nach wie vor den niedriger gestellten Gesellschaftsschichten angehören, mit einigen wenigen Ausnahmen im Bereich Unternehmer und ausgebildeter Fachkräfte. Aber auch die muslimischen Gemeinschaften sind unter sich durch Klassenunterschiede in unterschiedliche Gesellschaftsschichten unterteilt. In Großbritannien beispielsweise verfügen Bangladescher über den niedrigsten Ausbildungsstandard und die geringste berufliche Mobilität, Inder dagegen die jeweils höchste. Entsprechend, so Zubaida, gebe es innerhalb der verschiedenen Ethnien der Migrantengemeinschaften Vorurteile und soziale Spannungen, bis hin zum Rassismus.
Zwischen Anpassung und Ablehnung
Zubaida erwähnte auch die Generationskonflikte innerhalb muslimischer Migrantenfamilien. Die Generationen, die in Europa geboren und aufgewachsen sind, so Zubaida, lernen das europäische Bildungssystem und europäische Schulen kennen, weswegen sie mit der jeweiligen Landessprache in der Regel sehr viel besser vertraut sind und daher der jeweiligen Kultur auch insgesamt aufgeschlossener gegenüberstehen. “All diese Umstände führen oft zu ganz unterschiedlichen Auffassungen”, erklärte Zubaida. “Auf der einen Seite geprägt von der Anpassung an die vorherrschende Kultur, bis hin zu überhöhter religiöser Indentifikation auf der anderen Seite, welche sich gegenüber der der Eltern stark absetzt.”
In seinem Vortrag wandte sich Sami Zubaida auch den Beziehungen zwischen Kommunalpolitik und der muslimischen Migrantengemeinschaft zu. “Nicht selten instrumentalisieren Kommunalpolitiker politische Strategien, um dadurch Stimmen und Unterstützung zu erhalten – im Austausch gegen Sonderregelungen für die Gemeinschaft bezüglich Bildung, Wohnbedingungen und Arbeit. Dazu gehören u.a. die Versorgung der Schulmahlzeiten mit Halalfleisch, das also nach islamischem Ritus geschlachtet wurde; die Erlaubnis der Einhaltung der Gebetszeiten und die Anerkennung des Ramadan und anderer religiöser Feiertage.” Kommunale Trennlinien dieser Art, so Zubaida weiter, laufen den Versuchen muslimischer Führer zuwider, die bemüht sind, eine einheitliche Anerkennung einer einheitlichen muslimischen Gemeinschaft zu erreichen, so wie schon bei Katholiken, Protestanten und Juden der Fall. “In Ländern wie Belgien oder Deutschland ist das ein ganz besonders dringlicher Punkt, weil die körperschaftlichen religiösen Gemeinschaften dort finanzielle und fiskalische Vorteile genießen. […] Wenn man sich die Vielzahl kommunaler Interessen, rivalisierender Führungsansprüche und politischer Richtungsstreits vor Augen führt, dann kann man daran ablesen, dass es immer schwierig sein wird, gegenüber staatlichen Organen eine offizielle Vertretung für Muslime einzusetzen.”
Um darzulegen, wie weit islamische Kultur und Europa bereits miteinander verwachsen sind, erwähnte Zubaida, dass einige islamische Länder, allen voran Saudi Arabien und in geringerem Ausmaß auch Iran, auf die europäische Innenpolitik einwirken, indem sie beispielsweise Moscheen errichten lassen und Imame sowie Lehrer in verschiedene europäische Städte exportieren. Dabei propagieren sie ihre besondere Auffassung des Islam gegenüber anderen nationalen und kulturellen Traditionen.
Eine Minderheit für islamischen Separatismus
Indem Sami Zubaida die Ergebnisse verschiedener Statistiken zitierte, förderte er auch einige überraschende Informationen zutage. So zitierte er beispielsweise eine Studie des französischen Soziologen Remy Leveau, nach der sich die maßgebliche Mehrheit der in Frankreich lebenden Maghrebiner mit Frankreich identifiziert und darüber hinaus die Bereitschaft erklärt, sich der französischen Lebensart einzuordnen – nämlich rund 70%, von denen 64% sogar bereit wären, für die französische Armee zu kämpfen. Die “Ablehner”, wie Leveau sie nennt, also solche europäische Muslime, die im Islam eine so genannte “Gegenidentität” sehen und bisweilen einen muslimischen Separatismus befürworten, machen nur eine Minderheit aus, die bei ca. 15% liegt. Darüber hinaus erklärte Zubaida, dass der Großteil der europäischen Muslime im Gegensatz zur öffentlichen Meinung einen ausgesprochen laxen Umgang mit der religiösen Praxis an den Tag legt oder sogar ein vollkommen säkulares Leben führt. Einer 1995 in Frankreich durchgeführten Studie zufolge sollen insgesamt 68% aller in Frankreich lebenden Algerier ohne religiöse Bindung leben. Eine andere Studie, durchgeführt von Felice Dassetto, besagt, dass rund 60% aller europäischen Muslime säkulare Auffassungen vertreten, als Agnostiker, als indifferente oder als “kulturelle” Muslime.
In seiner abschließenden Bemerkung ordnete Zubaida die Anziehungskraft radikaler islamischer Positionen der historischen Perspektive zu. Diese radikalen Positionen, so Zubaida, sind nicht allein auf die organisierten Gruppen oder Terroristen beschränkt; sie werden vielmehr von vielen vom Westen enttäuschten oder entfremdeten Muslimen geteilt, und zwar innerhalb und außerhalb Europas. Viele Muslime im Westen, und allen voran die jüngeren Generationen, haben sich vielleicht nach den Anschlägen in New York und Washington der enthusiastischen Verherrlichung Bin Ladens und seiner Organisation angeschlossen. “Um dies aber in die historische Perspektive einzuordnen, sollten wir uns darüber klar werden, dass verschiedene historische Persönlichkeiten, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Vorherrschaft des Westens herausgefordert haben, schon immer große Popularität unter weiten Teilen der Weltbevölkerung genossen haben, einschließlich bei muslimischen Nationalisten”, behauptete Zubaida. “Das gilt ebenso für Hitler und Stalin wie später für Nasser, Khomeini und Saddam Hussein.” Zubaida stellte die These auf, dass sich dieses Phänomen nicht auf Muslime beschränke, sondern vielmehr die ganze Welt einschließe, einschließlich derjenigen bedeutenden Bereiche des europäischen Kulturlebens, welche den USA und ihrem vermeintlichen Anspruch an die Weltherrschaft feindlich gesonnen sind.
Diese Auffassungen seien jedoch größtenteils auf den Bereich der Meinungsbildung beschränkt und geraten nur in den allerwenigsten Fällen bis zur Ebene politischer Organisation und Mobilisation. “Die Tatsache, dass einige junge britische und europäische Muslime in den Reihen von Al-Kaida ausgemacht wurden, zeigt, dass in diesen Ländern Organisationen und Netzwerke aktiv sind und junge Muslime für militante Aktionen in verschiedenen Teilen der Welt rekrutieren - oder sogar für Gewalttaten in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern”, so Zubaida. “Der Großteil der Muslime im Westen ist politisch jedoch nicht aktiv. Und wenn doch, dann eher im Bereich lokaler und nationaler Politik als auf der Ebene globaler Konfliktlinien. Die meisten der europäischen Muslime sind in die überwiegend säkularisierte Kultur und Gesellschaft in Europa eingebunden.”
Lewis Gropp, Qantara.de
© 2003, Qantara.de
Sami Zubaida lehrt Politik und Soziologie am Birbeck College (University of London). Er ist Forschungsbeauftragter an dem Institut für Orientalische und Afrikanische Studien, London, darüber hinaus hat er Ehren- und Gastprofessuren in Kairo, Istanbul, Berkeley, Aix-en-Provence und Paris gehalten. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Religion, Ethnizität und Nationalismus in Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens.
Bei dem Forschungsprojekt an dem Institut für Kulturwissenschaften der Universität Essen steht das Globalisierungspotenzial des Islams sowie sein Potenzial als kultureller Gegenentwurf zum westlichen Positivismus und Individualismus im Mittelpunkt. Dabei werden drei Aspekte genauer untersucht: “Europäisierung des Islam”, die “Asiatische Rennaissance” in Bezug auf Buddhismus und Konfuzianismus sowie die “Re-Orientalisierung”, die sich auf Traditionen des antiken Ägypten bezieht.
Für weitere Informationen besuchen Sie bitte die Webseite des Kulturwissenschaftlichen Instituts: www.kwi-nrw.de