"Weltlich im Kopf, muslimisch im Herzen"

Der mit einer Million US-Dollar dotierte Opus Prize wird an Persönlichkeiten verliehen, die sich auf religiöser Grundlage humanitär engagieren. In diesem Jahr ging er zum ersten Mal an eine Muslimin: die Marokkanerin Aicha Chenna. Martina Sabra hat die Gründerin der Frauenorganisation Solidarité Féminine in Casablanca besucht.

Aicha Chenna; Foto: Thomas Whisenand for the Opus Prize Foundation; Copyright Opus Prize Foundation
Seit 2004 wird in den USA der Opus Prize vergeben. In diesem Jahr wurde Aicha Chenna für ihre Pionierarbeit mit ledigen Müttern und deren Kindern geehrt.

​​Im Zentrum von Casablanca liegt das Badehaus der Frauenorganisation Solidarité Féminine, ein moderner Hammam mit Frisiersalon und Fitness-Studio. Die 20jährige Mitarbeiterin Nawal, die durch das Haus führt, war nicht immer so selbstsicher wie heute. Als sie vor drei Jahren kurz vor dem Abitur schwanger wurde, brach für die damals Siebzehnjährige eine Welt zusammen.

"Wenn die Leute erfahren, dass man ein Kind hat, ohne verheiratet zu sein, akzeptieren sie einen nicht. In Marokko gilt das als große Schande."

Hilfe für die Schutzlosen

Der Vater entzog sich seiner Verantwortung und beendete die Beziehung. Doch Nawal entschied sich trotzdem für das Kind. Mit den Konsequenzen stand sie allein da. Sie musste die Schule verlassen. Weil außereheliche sexuelle Beziehungen vom marokkanischen Gesetz grundsätzlich als Prostitution angesehen werden und somit unter Strafe stehen, drohten ihr zudem sechs Monate Gefängnis.

Doch Nawal fand Hilfe.

Fotos: Thomas Whisenand for the Opus Prize Foundation; Copyright Opus Prize Foundation
Kurze Pause im unermüdlichen Einsatz für die 'weibliche Solidarität': Zahra Karin in der Hausküche von 'Solidarité Feminine' in Casablanca

​​"Ich bin zuerst zu den Mutter-Teresa-Schwestern in Casablanca gegangen. Dort hat man mir von dem Verein Solidarité Féminine erzählt."

Bei Solidarité Féminine sorgten die Sozialarbeiterinnen durch ihre Kontakte zu den Behörden dafür, dass Nawal das drohende Gefängnis erspart blieb. Außerdem halfen sie der Schülerin, eine Wohnung zu finden. Nach der Entbindung und einer Probezeit erhielt Nawal außerdem das Angebot, eine zweijährige Ausbildung in Hauswirtschaft zu absolvieren.

Mittlerweile ist Nawal zwanzig. Mit ihrer Ausbildung ist sie in wenigen Monaten fertig. Ihr zweieinhalbjähriges Kind, ein hübscher, aufgeweckter Junge, wird im Betriebskindergarten von Solidarité Féminine betreut.

Einsatz gegen die Heuchelei

Es seien Erfolgsgeschichten wie diese, die ihr Mut machten, erzählt Aicha Chenna, die Vorsitzende von Solidarité Féminine. 1985 rief die gelernte Krankenschwester den Verein ins Leben – die erste Organisation für ledige Mütter in der islamischen Welt. Den Anstoß gab damals ihre Arbeit beim marokkanischen Sozialministerium. Fast täglich hatte Aicha Chenna dort mit Frauen zu tun, die ihre Kinder zur Adoption freigaben. Viele hatten Vergewaltigungen oder sexuellen Missbrauch erlebt.

"Die unverheirateten Mütter sind oft die jüngsten Töchter armer Familien vom Land. Sie werden mit sieben, acht Jahren von ihren Familien als Dienstmädchen in Haushalte in der Stadt verkauft", erklärt Chenna.

"Sie können weder lesen noch schreiben und haben keine Ahnung von Sexualität. Nicht selten werden diese Mädchen an ihrem Arbeitsplatz belästigt oder gar vergewaltigt. Oder sie fallen auf Männer herein, die ihnen das Blaue vom Himmel versprechen. Werden sie dann schwanger, weist die Gesellschaft sie zurück. Diese Heuchelei fand ich unerträglich."

Foto: Thomas Whisenand for the Opus Prize Foundation; Copyright Opus Prize Foundation
Zuflucht und Heim für die Kinder unverheirateter Frauen: von Seiten der Politik werden Initiativen wie 'Solidarité Feminine' gerne gesehen; in konservativen Kreisen der Gesellschaft gibt es jedoch starke Vorbehalte.

​​Aicha Chenna und ihre Mitstreiterinnen wollten den jungen Müttern die Möglichkeit geben, ihre Kinder zu behalten und ein eigenständiges Leben zu führen. Dabei setzten sie auf die Stärken der betroffenen Frauen: ihre Kenntnisse in Küche und Haushaltsführung.

1986 eröffnete Solidarité Féminine in einem Arbeiterviertel von Casablanca die erste Garküche Marokkos, die ausschließlich von ledigen Müttern betrieben wurde. In den folgenden Jahren kamen zahlreiche weitere einkommenschaffende Projekte hinzu.

Reform des Familien- und Personenstandsrechts

Die Initiative wurde gelobt, aber auch kritisiert. Konservative Kräfte behaupteten, Solidarité Féminine würde die Prostitution fördern und den Islam ruinieren. Freitagsprediger in Moscheen sprachen offene Drohungen aus. Doch Aicha Chenna ließ sich nicht einschüchtern.

Ein wichtige Bestätigung für ihre Arbeit war die Reform des marokkanischen Familien- und Personenstandsrechts im Jahr 2004: seither können marokkanische Gerichte Vaterschaftstests anordnen. Paare, die unverheiratet ein Kind zeugen, können sich nachträglich verloben und so einer Strafe entgehen. Unverheiratete Mütter, die keinen Partner haben, profitieren von diesem Gesetz allerdings nicht.

"Verlobung heißt ja, dass man sich einig ist. Aber das gilt nicht für alle Frauen", erklärt Chenna. "Und hier sehe ich das Problem: Die anderen gelten immer noch als Prostituierte. Sie müssen nach wie vor damit rechnen, bis zu sechs Monate im Gefängnis zu landen."

Ein moderner, liberaler Islam der Werte

Aicha Chenna, die bereits vor vielen Jahren die Hajj, die Pilgerfahrt nach Mekka absolviert hat und die von Freunden deshalb auch "Hajja", genannt wird, verkörpert einen modernen, liberalen Islam. "Weltlich im Kopf und muslimisch im Herzen" lautet ihr persönliches Motto.

Dass Solidarité Féminine nun für die jahrzehntelange, oft sehr harte Pionierarbeit den hochdotierten Opus-Preis erhalten hat, ist nicht nur für die 68jährige Gründerin, ihre Mitarbeiterinnen und für alle ledigen Mütter in Marokko eine Ermutigung. Die Ehrung ist auch eine wichtige Botschaft gegen religiös motivierte Intoleranz jeder Couleur.

Martina Sabra

© Deutsche Welle 2009

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