Ägyptens Kultur auf vier Rädern
Wird Ägypten jetzt dauerhaft zur Militärdiktatur? Der neue Literaturstar des Landes, Chaled al-Chamissi, ist sicher: das wird nicht geschehen, dafür ist zu viel passiert bei der ägyptischen Revolution in den letzten Wochen. Al-Chamissi ist selbst einer der Wortführer der Revolution. Er zeigt sich von vielem begeistert, ist aber auch vorsichtig, was die Konsequenzen des Wandels angeht.
"Ich misstraue dem Militär. Jeder, der in der heutigen Welt auch nur über ein bisschen Kultur verfügt, misstraut der Armee", sagt er. "Aber ich vertraue auf die Macht des Volkes. Das ägyptische Volk hat gelernt: Es kann etwas verändern. Es ist sich jetzt seiner Macht bewusst. Und die ägyptische Armee kann ihm seine Forderungen nicht vorenthalten."
Quo vadis Ägypten?
Jeden Tag war Chaled al-Chamissi auf dem Tahrir-Platz. Interviewanfragen beantwortete er lange nicht, mit der Begründung, er müsse dabei sein, wenn dort Geschichte geschrieben wird, sonst würde er sich das sein ganzes Leben lang nicht verzeihen. Jetzt ist Mubarak fort, und auch Ägyptens Intellektuelle und Schriftsteller stehen vor ganz neuen Aufgaben.
"Wir versuchen gerade herauszufinden, welche Szenarien jetzt für Ägypten denkbar sind", sagt der Dichter. "Viele Schriftsteller und Autoren fragen sich, was sie in dieser Situation vernünftigerweise schreiben können. Wir alle haben großes Vertrauen in die Zukunft. Wir fühlen, dass das Morgen viel schöner sein wird als das Heute, wie es der türkische Dichter Nazim Hikmet einmal gesagt hat."
Überwältigt spricht al-Chamissi davon, dass sich plötzlich etwas in der Psyche des ägyptischen Volkes verändert habe. Die Seele dieses Volkes trete wieder hervor, sagt er, und das größte Verbrechen Mubaraks war, diese Seele beinahe stranguliert zu haben. Ägypten leuchte nun wieder. Doch dann holt al-Chamissi zu einem ziemlichen Schlag gegen den Westen aus – für den werde es nämlich viel unbequemer als in der Vergangenheit: "Als sich Angela Merkel das erste Mal zur ägyptischen Revolution äußerte, zeigte sie sich erleichtert und pries vor allem den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag.
Doch 95 Prozent der Ägypter sind gegen diesen Vertrag, diese alten Vereinbarungen aus den 1970er Jahren. Das heißt nicht, dass die Ägypter den Krieg wollen. Sie wollen Frieden. Aber sie sind von der Vergangenheit sehr enttäuscht. Was hat ihnen die sogenannte Freundschaft mit den USA und Israel gebracht – außer Dosen mit Tränengas aus Washington, die auf das Volk abgeschossen wurden? Außer Militärhilfe und Überweisungen für ein paar Privilegierte?"
Islamismus und Hysterie
Al-Chamissi wird an dieser Stelle tatsächlich ziemlich erregt. Er macht deutlich, dass es nicht so weiter gehen kann im Verhältnis mit Israel. "Die Ägypter sind gegen den Frieden mit einem Staat, der die Palästinenser seit Jahrzehnten unterdrückt. Wir hassen die Unterdrückung der Palästinenser ebenso, wie wir Mubarak gehasst haben. Die Amerikaner und die Europäer wollen Demokratie für Ägypten, aber eine Demokratie, die nett ist, die pro-amerikanisch, proeuropäisch und proisraelisch ist. Das ist aber ganz und gar unmöglich." Seit 30 Jahren machten die Amerikaner und die Israelis mit den Arabern, was sie wollten, sagt al-Chamissi. Der Westen rede ständig von der islamistischen Gefahr, obwohl jeder, der während der Demonstration in Ägypten war, sehen konnte: die Islamisten werden nie über 20 Prozent kommen – so viel Stimmen wie Le Pen in Frankreich.
"Ich war mit französischen Kamerateams unterwegs. Wenn die unter 2.000 Gesichtern auch nur einen stenggläubigen Bärtigen sahen, dann filmten sie genau dieses Gesicht, nicht etwa die 1.999 anderen. Ich frage mich wirklich, wozu das dient." Wie soll es weitergehen? Als nächsten Schritt könnte Amre Moussa an die Spitze des ägyptischen Staates treten, der Generalsekretär der Arabischen Liga und ehemalige ägyptische Außenminister. Amr Moussa könne eine Übergangsfigur sein, auch wenn er, al-Chamissi, Amre Moussa für substanzlos und eine eher lächerliche Gestalt halte. Doch zumindest kenne er die Spielregeln der internationalen Politik. Und er könne reden und habe Charisma, die Massen liebten ihn.
Die Zukunft liegt in der Vergangenheit
Doch Chaled al-Chamissi vertraut ohnehin nicht den Politkern. Für ihn zählt etwas ganz anderes: das einfache ägyptische Volk. "Wir wissen, dass es hier einen Staat gibt, der seit mindestens 10.000 Jahren dieselben Grenzen hat. Das war immer ein starker Staat, der seine Einwohner unterdrückt hat. Dagegen hat das Volk durch auf seine Art reagiert: mit Witz, Humor und Ironie gegen die Diktatur. Es gab unendlich viele Witze gegen Mubarak, gerade im einfachen Volk." Auch deshalb hat er dieses Buch geschrieben: Es heißt "Im Taxi" - es sind Gespräche mit ägyptischen Taxifahrern, die alle aus den unteren Schichten stammen. Sie alle seien sehr arm, sagt al-Chamissi - während er übrigens selbst gerade in einem Taxi sitzt.
Die Taxifahrer hatten keine Zeit für die ägyptische Revolution, sie mussten Taxi fahren und Geld verdienen. Doch gerade diese Schichten wiesen den Weg in die Zukunft. "Ich glaube an das ägyptische Volk, an seine Weisheit und seine Kultur - eine volkstümliche Weisheit. Mein Buch ist eine Hommage an diese ganz gewöhnlichen Leute, wie die Taxifahrer, von denen manche fast Analphabeten sind. Sie tragen ein Weltverständnis in sich, das tiefer geht als das der großartigen ägyptischen Professoren, die nur die Stereotypen der Amerikaner und Engländer wiederholen. Auf der arabischen Straße höre ich die Stimme dieser Weisheit."
Zur Weisheit, bemerkt al-Chamissi, gehöre übrigens immer auch eine große Vorsicht. Das Volk sei sehr viel skeptischer als die Macher der Revolution. Es weiß: Erst im nach hinein wird man sehen, ob es sich überhaupt gelohnt hat, sich zu freuen.
Werner Bloch
© Deutsche Welle 2011
Chaled al-Chamissi: "Im Taxi. Unterwegs in Kairo", Lenos-Verlag, Basel 2011 Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de