Blaulicht, Gehupe und zerrissene Beine
Vor dem Feldspital des Roten Kreuzes in Rafah herrscht Chaos. Mehr als ein Dutzend Krankenwagen stehen vor dem Areal aus Zelten, warten darauf, dass sie an der Reihe sind, ihre Verletzten auszuladen. Blaulicht, Gehupe. Sanitäter geben Anweisungen. Immer wieder ist das Auseinanderklappen der Ambulanzliegen zu hören, die dann zum Eingang geschoben werden.
Das Feldspital ist derzeit die einzige Anlaufstelle für die palästinensischen Verletzten nach israelischen Angriffen auf die Stadt Rafah und die Zeltlager in deren Umgebung. Oft kämen Dutzende Schwerverletzte auf einmal an, erzählt der deutsche Pflegedienstleiter Simon Rinnert, „dann triagieren wir.“ Wer sofort operiert werden muss, erhält die Farbe Rot. Wer im kritischen Zustand ist, aber noch etwas warten kann, bekommt Gelb. Wer noch aufrecht stehen kann, erhält Grün – und muss warten.
Rinnert erinnert sich gut an seinen ersten Tag im Feldspital. „Wir hatten über 50 Verletzte, einige davon sehr schwer, und über 20 Tote, die gleichzeitig angekommen sind. Es war fast schon apokalyptisch“, schildert er. „Während die Leute angekommen sind, haben wir um uns herum Explosionen und Maschinengewehrfeuer gehört. Raketen flogen durch die Luft“.
„Seit zehn Monaten sterben wir hier“
Über 80 Prozent der im Feldspital eingelieferten Fälle sind Kriegsverletzte. Einer von ihnen ist Muhammad Mukhemar, der ein Bein verloren hat. Er ist der einzige, der einen israelischen Raketeneinschlag in sein dreistöckiges Familienhaus überlebt hat. 16 seiner Angehörigen sind tot. „Kinder meines Bruders wurden vor meinen Augen zerfetzt, andere sind bis ins Nachbarhaus geflogen. Meine Mutter und meine Schwestern, mein Bruder, mein Vater, alle waren tot. Mögen sie in Frieden ruhen“, sagt er.
Akram Abu Warda wurde bei einem israelischen Angriff auf das Mawasi-Lager nahe Rafah Mitte Juli schwer verletzt. Sein Darm habe wieder zusammengenäht werden müssen, erzählt der Vater von zwei kleinen Kindern. „Seit zehn Monaten sterben wir hier. Wir gehen zu Bett mit dem Geräusch von Explosionen.“ Er nimmt ein Handtuch und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht: „Und wir wachen mit den gleichen Geräuschen auf.“
Als die Bombe einschlug, färbte sich der Himmel rot, erzählt Nedaa Muhammad, die ohne Beine auf einem der Betten des Spitals sitzt. „Ich habe nach dem Knall der Explosion nichts mehr gehört und ich hatte keine Schmerzen. Aber alle starrten auf meine zerrissenen Beine. Beide wurden amputiert. Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe. Seit zwei Monaten werde ich jetzt hier behandelt.“
Vor dem Zelt schiebt sich der kleine Saleh Arafat in seinem Rollstuhl über einen Pflasterweg zwischen den Zelten hindurch. Er ist vielleicht 12 Jahre alt. Auf seinem Schoß liegt eine Decke, sie verdeckt den Oberschenkelstumpf eines Beins. „Als die Bomben kamen, habe ich mein Bein verloren. Um mich herum waren lauter Tote und Verletzte“, erinnert er sich. „Als mein Vater mich wegtrug, gab es weitere Explosionen, bis wir das Auto erreicht haben.“ Am Ende landete er im Rot-Kreuz-Feldspital.
Respekt für palästinensische Mitarbeiter
Über 30 internationale und 200 palästinensische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kümmern sich hier um die Verletzten. Vor allem für die palästinensischen Mitarbeiter habe er großen Respekt, sagt Rinnert. „Fast alle haben nicht nur eines, sondern mehrere Traumata erlebt. Das macht es schwer, einfach mit seinem Job weiterzumachen“, so Rinnert. „Wenn man sich Gedanken machen muss, wie es der eigenen Familie geht, während gerade eine militärische Operation in dem Flüchtlingslager stattfindet, in dem sie lebt.“
Allein von Mitte Juli bis Anfang August wurden über 6.000 Patienten in dem Rot-Kreuz-Feldspital behandelt. Etwa die Hälfte waren Frauen. Kinder unter 15 Jahren machten etwa ein Drittel der Patienten aus. Das Deutsche Rote Kreuz hat geholfen, das seit Mai arbeitende Spital medizinisch auszustatten und Fachkräfte zu entsenden. „Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist katastrophal und die medizinische Versorgung völlig unzureichend, da viele Krankenhäuser nicht mehr funktionsfähig sind“, erklärt Christof Johnen, der Leiter für internationale Zusammenarbeit beim DRK.
Der Palästinensische Rote Halbmond habe dringend um Unterstützung gebeten. Angesichts der Erfahrung des DRK mit dem Aufbau und Betrieb solcher Hilfsstrukturen sei es selbstverständlich gewesen, zur besseren Versorgung der Zivilbevölkerung beizutragen. „Alle Probleme lösen“, betont Johnen, „kann das Rotkreuz-Feldspital aber natürlich nicht“. Trotzdem ist eines sicher: Mit dem in Trümmern liegenden palästinensischen Gesundheitssystem im Gazastreifen sind Projekte wie das Rot-Kreuz-Feldspital in Rafah für viele Menschen im Gazastreifen buchstäblich eine Frage des Überlebens.
Anmerkung: Da keine Journalisten in den Gazastreifen hineingelassen werden, basiert dieser Text auf dem Material eines vom Autor beauftragten Kameramanns, dem das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) exklusiven Zugang zum Rot-Kreuz-Feldspital in Rafah gegeben hat.
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