"Die Gaza-Resolution ist nur ein erster Schritt"

Mosche Zimmermann ist israelischer Historiker und war langjähriger Gastprofessor an mehreren deutschen Universitäten.
"Wenn die Absicht und der Wille vorhanden sind, kann man alle Konflikte überwinden, hinter sich lassen und einen Frieden anstreben. Es ist eine Frage des politischen Willens", sagt der israelische Historiker Mosche Zimmermann. (Foto: Marius Becker/dpa/picture alliance)

Der UN-Sicherheitsrat hat am 10. Juni dem US-Plan für eine Waffenruhe im Gazastreifen gestimmt. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann sieht darin einen Anfang auf dem Weg zu einer Friedenslösung - mit hohen Hürden.

Von Thomas Latschan

Herr Zimmermann, der UN-Sicherheitsrat hat sich für einen dreistufigen Friedensplan für Gaza ausgesprochen. Zunächst soll es eine Waffenruhe geben, während der ein erster Austausch israelischer Geiseln und palästinensischer Gefangener stattfindet. Darauf soll eine dauerhafte Einstellung aller Kämpfe mit der Freilassung aller verbliebener Geiseln folgen und schließlich eine dauerhafte Friedenslösung mit dem Wiederaufbau Gazas. Bedeutet diese Resolution einen Durchbruch auf dem Weg hin zu einer Beilegung des Konfliktes?

Moshe Zimmermann: Sie ist ein Schritt auf dem Weg. Ein Durchbruch wird erzielt, wenn beide Seiten zustimmen, sowohl die Hamas als auch die israelische Regierung. Die israelische Regierung hat sich noch nicht abschließend zu dem Friedensplan geäußert. Danach erst kann man sehen, ob er ein Durchbruch war oder zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.

Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Plans?

Zimmermann: Die größte Schwierigkeit ist, dass beide Seiten sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Die Hamas versucht, den Krieg zu Ende zu bringen, das heißt die israelische militärische Überlegenheit zu brechen, und Israel versucht, die Hamas zu zerstören. Mit diesem Waffenstillstand erreicht Israel bestimmt nicht seine Ziele, die Hamas schon eher. Und das ist die Schwierigkeit im Moment.

Zerrissenes Israel: Am Sonntag verkündete Oppositionsführer Benny Gantz seinen Austritt aus der Einheitsregierung von Benjamin Netanjahu
Kein klarer Plan für den Tag danach: Am Sonntag (9. Juni) verkündete Oppositionsführer Benny Gantz seinen Austritt aus der Einheitsregierung von Benjamin Netanjahu. (Foto: Ammar Awad/REUTERS)

"Die Kriegsziele waren ein Fehler"

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober sind ja mittlerweile mehr als acht Monate vergangen. Von den selbst gesteckten Kriegszielen hat Israels Premier Benjamin Netanjahu noch keines erreicht: Weder wurde die Hamas besiegt, noch sind alle Geiseln frei. Ist Israels bisherige Politik also gescheitert?

Zimmermann: Es war von Beginn an ein Fehler, das Ziel einer absoluten Zerschlagung der Hamas zu verfolgen oder das anzustreben, was Netanjahu einen "absoluten Sieg" genannt hat. Das war eine Illusion, das war nicht das richtige Ziel nach dem großen Debakel am 7. Oktober. Der Krieg hat sich auch deshalb so in die Länge gezogen, weil man dieses Ziel eben nicht erreichen kann.

Wer könnte denn die Umsetzung dieses Friedensplans garantieren? Wer wäre geeignet, jetzt als Schutzmacht zu fungieren?

Zimmermann: Die Hauptrolle spielen die USA, darüber gibt es keinen Zweifel, und die Alliierten der Amerikaner im Nahen Osten wie Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien. Selbstverständlich müssen auch die Palästinenser jetzt eine Alternative zur Hamas anbieten. Sie müssen die Palästinensische Autonomiebehörde reformieren und stärken. Wenn das alles klappt, dann kann man die Waffenruhe auch zu einem längeren Waffenstillstand führen.

Am Montagabend beschloss der UN-Sicherheitsrat seine Unterstützung für den US-Plan für eine Waffenruhe in Gaza
Am Montagabend (10. Juni) beschloss der UN-Sicherheitsrat seine Unterstützung für den US-Plan für eine Waffenruhe in Gaza. (Foto: Michael M. Santiago/Getty Image)

Kein Nachkriegsplan für Gaza

Dennoch gibt es bislang keine offizielle Stellungnahme Israels dazu, wie es mit Gaza nach Beendigung des Krieges weitergehen soll. Oppositionsführer Benny Gantz hat die Einheitsregierung deshalb ja auch im Streit verlassen. Wie könnte eine Nachkriegsordnung aussehen?

Zimmermann: Wir wissen, wie eine Nachkriegsordnung aussehen könnte, wenn man daran interessiert wäre: Die Palästinensische Autonomiebehörde müsste Gaza anstelle der Hamas übernehmen, sodass die Palästinenser auf beiden Seiten - in Gaza und im Westjordanland - mit einer Stimme sprechen. 

Das wäre eigentlich eine vernünftige Lösung, aber Netanjahu wäre ganz bestimmt nicht damit einverstanden. Deswegen gab es bislang noch keinerlei Bemühungen in diese Richtung. Deswegen dauert der Krieg so lange und deswegen gibt es keinen klaren Plan für den Tag danach. 

Das war letztendlich auch der Grund dafür, dass Benny Gantz aus der Regierung austreten musste. Wenn das alles zu nichts führt, kann er nichts bewirken, und dann ist es besser, wenn er in der Opposition sitzt.

Es gibt auch immer wieder Stimmen aus dem rechten Lager, die nach einem Ende des Konfliktes eine Besetzung Gazas durch israelische Siedler fordern. Handelt es sich hier nur um eine kleine Gruppe oder ist das tatsächlich eine ernstzunehmende Bewegung? 

Zimmermann: Überlegungen gibt es viele und von allen Seiten. Das Problem ist die extrem rechtsstehende Regierung. In dieser Regierung sitzen diejenigen, die behaupten, Gaza müsse wieder besetzt werden und dort sollten neue jüdische Siedlungen entstehen. Ob auch Netanjahu so weit gehen will, wissen wir nicht, aber seine Koalitionspartner blockieren jede andere Alternative.

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Ist Versöhnung möglich?

Die anderen Überlegungen, die ich zuvor dargestellt hatte, bleiben die Überlegungen der Opposition. Sie haben bislang noch keine Wirkung und keinen Einfluss - und das ist der Grund, warum der Krieg von israelischer Seite weitergeführt wird. 

Wenn man keine vernünftige Lösung anbieten kann, dann kämpft man eben weiter. Und da man die Hamas nicht völlig zerstören und auch Gaza nicht komplett bombardieren kann, haben wir eben diesen Zermürbungskrieg, der noch immer weitergeht. Acht Monate sind eine sehr lange Zeit, ganz bestimmt für Israel. Aber der Krieg könnte noch länger dauern, wenn die Regierung nicht zu einer neuen Entscheidung kommt.

Rechnen Sie denn mit einer Zustimmung Israels zu dem Plan? 

Zimmermann: Ich nehme an, dass es zu einem Hickhack kommen wird, wie immer. Aber am Ende lässt mich hoffen, dass der amerikanische Druck effektiv genug sein wird, damit dann doch ein Waffenstillstand auf der Grundlage der Entscheidung im UN-Sicherheitsrat zustande kommt.

Der 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft schwer traumatisiert, aber nach Monaten schwerster kriegerischer Auseinandersetzung mit Zehntausenden Toten gilt das ja auch für die Palästinenser. Wie können die beiden Völker überhaupt wieder zusammenfinden? Wie kann man nach dieser Eskalation wieder eine irgendwie geartete Vertrauensbasis aufbauen?

Zimmermann: Ich bin Historiker, der sich mit der europäischen Geschichte befasst. Ich kenne den Ersten und den Zweiten Weltkrieg. Damals gab es noch mehr Tote und noch mehr Zerstörung. Wenn die Absicht und der Wille vorhanden sind, kann man das alles überwinden, hinter sich lassen und einen Frieden anstreben. 

Es ist eine Frage des politischen Willens. Das kann man auch im Nahen Osten erreichen - meines Erachtens sogar eher als in Europa. Europa hat es erst nach zwei Weltkriegen geschafft. Wir können es auch schaffen - vorausgesetzt, dass beide Seiten sich neu überlegen, was ihr Ziel ist. Wenn beide wieder nur auf die Zerstörung der anderen Seite setzen, dann schafft man auch mit einem Waffenstillstand nicht den Anfang eines Friedens.

Thomas Latschan

© Deutsche Welle 2024 

Der israelische Historiker Moshe Zimmermann ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem. Von 1986 bis 2012 war Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte. In Deutschland hatte er mehrere Jahre eine Gastprofessur.