Der falsche Erlöser

Ich saß in meiner kleinen Wohnung, in der es weder Platz für mich geschweige denn meine Gedanken gibt, und verfolgte am 29. März in den sozialen Medien die Zeremonie zur Bildung der neuen syrischen Übergangsregierung unter der Leitung von Ahmed al-Scharaa. Ich hatte nicht die Möglichkeit, mir das Ganze im Fernsehen anzuschauen, denn in unserem Viertel fällt ständig der Strom aus.
Was ich sah, kam mir merkwürdig vertraut vor. Es unterschied sich kaum von den politischen Ritualen, die wir als Syrer schon seit Jahrzehnten kennen: gezwungenes Lächeln der Anwesenden, abgedroschene Parolen, vorprogrammierter Applaus. Was hier aufgeführt wurde, sollte ein Neuanfang sein, doch es erinnerte mich an die eben erst vergangene dunkle Epoche, eine Zeit, die ich so gerne vergessen würde.
Der Hauptdarsteller in diesem politischen Theater war Ahmed al-Scharaa, ein Mann, der bis vor Kurzem noch auf internationalen Terrorlisten gestanden hatte und nun plötzlich als Garant für Sicherheit und Ordnung gelten sollte. Bevor er hier und heute auf der Bühne des neuen Syriens erschien, hatte er noch unter seinem Kampfnamen „Abu Muhammad al-Dscholani“ im Irak den Dschihad, den heiligen Krieg, unter der Flagge von al-Qaida geführt.
Nach Ausbruch der syrischen Revolution kehrte er in sein Heimatland zurück, um Syrien mit der al-Nusra-Front, später umbenannt in Hai’at Tahrir al-Scham, nach seinen Vorstellungen umzubauen. Aus dem Terroristen wurde der Staatsmann. Die Metamorphose vom Milizenführer al-Dscholani zum Präsidenten Al-Scharaa war abgeschlossen.
Die Regierungsbildung, von der ich erwartet hatte, dass sie ein politischer Wendepunkt sein würde, erfolgte ohne jegliche gesellschaftliche Diskussion oder demokratisch legitimierte Wahl. Sie wurde einfach verkündet, umgesetzt und beklatscht. Eine neue Autorität nahm den Platz der alten ein und teilte ihre Beschlüsse nun ganz fortschrittlich per Messenger-App Telegram mit. Was mich persönlich am meisten schockierte, war die Reaktion der Öffentlichkeit, die den neuen Präsidenten verherrlichte und als Erlöser feierte.
In Syrien ist das ein altes Muster. Politische Führer werden hier fast immer als vom Schicksal Gesandte inszeniert, nicht als kompetent oder vertrauenswürdig. Dabei spielt ein kollektiver, emotionaler Affekt eine Rolle, der in unserer durch Repression, Alternativlosigkeit und Angst vor dem Unbekannten geprägten Gesellschaft aus einer psychischen Not heraus erfolgt.

Assad's long shadow
In Syria, "minority protection" has long been used as a pretext for pitting religious and ethnic groups against each other. We Syrians must refuse the weaponisation of our identities, because the new government is counting on division.
Die Begeisterung für al-Scharaa kann man als Ausdruck dessen verstehen, was ich als „President Issues“ bezeichne: des tiefer sitzenden Bedürfnisses der Menschen nach Stabilität in einer traumatisierten Gesellschaft. Doch genau dies führt immer wieder dazu, dass völlig ungeeignete Personen an die Macht gelangen – einfach, weil sie als das geringere Übel in einem politisch-moralischen Vakuum erscheinen.
Diese Euphorie, die durch die digitalen Medien verstärkt wird, ist natürlich kein allein arabisches Phänomen. Der Aufstieg von Donald Trump wurde maßgeblich durch dessen Social-Media-Präsenz, erst auf Twitter, später auf seiner eigenen Plattform Truth Social, ermöglicht. Auch er wurde von seinen Anhängern zunehmend nicht nur als starker Führer, sondern auch als nationale Erlöserfigur gefeiert. Sein umstrittener Werdegang geriet dabei fast in Vergessenheit.
Es scheint, als begünstigten soziale Medien den Aufstieg von Menschen, die politische und moralische Standards auf disruptive Weise untergraben. Im Fall von al-Scharaa wiegen diese Defizite allerdings wohl noch schwerer als bei Trump. 2013 kam es in der syrischen Küstenregion Latakia zu Massakern. Bewaffnete Oppositionsgruppen überfielen alawitische Dörfer und ermordeten zahlreiche Menschen, darunter viele Frauen und Kinder.
Laut Beobachtern wie Human Rights Watch war al-Nusra daran direkt beteiligt, der heutige Präsident war damals unumschränkter Führer der Miliz. Immer wieder ließ er auch Dörfer der Gemeinschaft der Drusen angreifen. Bei so einem Angriff wurden 2018 in Suwaida mutmaßlich 250 Menschen getötet. Auch hierfür trug Abu Muhammad al-Dscholani beziehungsweise al-Scharaa zumindest indirekt die Verantwortung.
Dass diese Gräuel heute kaum noch ein Thema im öffentlichen Diskurs sind, lässt sich nicht nur durch die Angst vor Repression erklären. Laut der funktionalistischen Theorie, die von den Soziologen Émile Durkheim und Talcott Parsons begründet beziehungsweise weiterentwickelt wurde, kann kollektives Schweigen als Reaktion einer krisengeplagten Gesellschaft interpretiert werden.
Protest wird als Bedrohung der Stabilität und des sozialen Gleichgewichts empfunden. Was nicht heißen muss, dass eine Gesellschaft das Handeln der Mächtigen wirklich unterstützt. Alleine die Sorge vor erneutem Chaos wiegt schwerer. Der Soziologe Pierre Bourdieu wiederum spricht von der sogenannten symbolischen Gewalt, die nicht durch Polizei oder Militär, sondern subtil, unsichtbar und häufig unbemerkt ausgeübt wird – etwa durch allgemein anerkannte Sprachregelungen, soziale Normen oder kulturelle Codes.
Die Beherrschten unterwerfen sich gewissermaßen selbst einer Autorität, die als Garant für Sicherheit und Stabilität wahrgenommen wird. In diesem Kontext kann es bereits als Verstoß gegen den gesellschaftlichen Konsens empfunden werden, wenn jemand von den Mächtigen Rechenschaft verlangt oder nach den Opfern ihrer Politik fragt. In diesem theoretischen Sinne lässt sich die syrische Realität als eine Art Kreislauf oder ständige Reproduktion von Unterdrückung und Unterwerfung erklären.
Das hier so bezeichnete Phänomen der „President Issues“ ähnelt jenem der „Daddy Issues“, sprich einem sogenannten Vaterkomplex. Die tief verwurzelte Sehnsucht nach Sicherheit und gerechter Politik bringt viele Syrerinnen und Syrer dazu, autoritäre Figuren zu idealisieren, ihre Fehler zu übersehen und ihnen unbedingte Loyalität zu schenken, obwohl ihre Versprechen leer und ihr Führungsstil unmoralisch sind. So wächst das Risiko, erneut einem Diktator zu verfallen. Einfach, weil man sich denkt: „Wer uns befreit, darf entscheiden.“
Nach der Regierungsbildung bestätigte sich dieser Eindruck mit Blick auf den Social-Media-Feed. Was ich sah, war eine Mischung aus Applaus, Jubel und digitalem Fanatismus bei gleichzeitigem Mangel an kritischer Reflexion, geschweige denn öffentlichem Widerspruch. Es schien mir, als seien die Menschen politisch, sozial und ökonomisch überwältigt und erschöpft. Insbesondere bei Teilen der sunnitisch-islamischen Bevölkerung wurde der Aufstieg Ahmed al-Scharaas nach Jahren der eigenen politischen und sozialen Marginalisierung als „sunnitische Erlösung“ gefeiert.
Ein Gefühl konfessioneller Überlegenheit befeuert heute eine neue Generation von „Schabiha“-Milizen, einer Bande gewaltbereiter Schläger, die über die sozialen Medien die gleichen brutalen Methoden anwenden wie das alte Regime und wegen denen die Revolution überhaupt erst begann. Ihre Mittel unterscheiden sich kaum von jenen Assads: Verleumdung, Einschüchterung, Hetze.
Wer etwa die zunehmende Islamisierung staatlicher Institutionen kritisiert oder Gerechtigkeit als Voraussetzung für gesellschaftlichen Frieden fordert, wird sofort als Feind der Revolution oder Überbleibsel des Regimes diffamiert. Solche Stimmen gefährden das heile Bild des neuen Erlösers.
Diese vermeintliche Erlösung war und ist eine Illusion, und darin liegt die eigentliche Tragik. Das Problem in Syrien war nie die Konfession des Herrschers, sondern der Mangel an Gerechtigkeit und an Gleichheit. Al-Scharaa trägt aktiv zur Vertiefung der Spaltung der Gesellschaft bei, indem er die Polarisierung fördert, ohne eine echte Vision für ein inklusives nationales Projekt oder die Verbesserung des Lebensstandards der Syrerinnen und Syrer zu bieten.

Doch nicht nur Influencer auf Social Media fördern diese Narrative der Spaltung. Auch größere Medien im Land tragen zur Verschärfung der kollektiven Psychose bei. Sie unterstützen die neue Inkarnation von Abu Muhammad al-Dscholani mit emotionalen Videoserien. Hier beispielhaft nur einige Titel: „Hundert Eigenschaften des Scharaa“, »Scharaa hinter den Kulissen« oder »Warum Frauen Scharaa lieben«.
In solchen Beiträgen wird die wundersame Metamorphose des Milizenführers zum heroischen Erlöser vollendet. Sie haben eine gefährliche Faszination für einen äußerst gewaltbereiten Mann erzeugt, der sich nun als volksnaher Führer inszenieren kann.
In Syrien, wo das sadistische Assad-Regime ein nationales Trauma verursacht hat, gibt es mittlerweile so etwas wie ein politisches „Stockholm-Syndrom“ – oder eben auch „Damaskus-Sydrom“: Die emotionale Identifikation mit dem neuen Regime und seinem Führer ist bedingungslos.
Die Geschichte wiederholt sich, diesmal als Farce. Wenn wir das nicht bald erkennen, und wenn wir etwaige Grundrechte, die uns versprochen werden, weiterhin als das gnädige Geschenke eines väterlichen Führers betrachten, dann produzieren wir selbst einen neuen Tyrannen. Er wird wohl kaum weniger brutal sein als der vorherige.
Auch ich war nicht immun gegen die Verlockungen des Versprechens auf Ordnung und Stabilität. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich einige Tage habe blenden lassen, nur weil Worte fielen wie „Pressefreiheit“, „Wiederaufbau“ und „Rechtsstaatlichkeit“.
Doch inzwischen weiß ich, dass ich, bis solche Begriffe wirklich mit Bedeutung gefüllt werden, unter Pseudonym weiterschreiben muss, während ich in meiner kleinen Wohnung mit den letzten Zuckungen der Elektrizität kämpfe. Ich halte durch in der Hoffnung, dass wir, die wir kollektiv psychisch erkrankt sind, irgendwann genesen und wirklich frei sein können.
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzt mithilfe von Übersetzungsprogrammen, Bearbeitung von Ruben Donsbach.
Lesen Sie diesen Artikel in unserer gemeinsamen Printausgabe mit dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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