Die "Heroes" von Berlin-Neukölln
"Stell dir vor, meine Schwester geht abends noch raus und ihr passiert was. Die Nachbarn bekommen das mit und dann heißt es überall, der ist ein Ehrenloser", sagt ein Jugendlicher empört während eines Workshops der "Heroes". "Du musst unterscheiden, ob du auf sie aufpasst oder ob du sie einsperrst, auch sie muss ihre Freiheiten haben", hält Deniz, ein Berliner "Heroe", dagegen. Es gehört Mut dazu, in der türkischen Community den althergebrachten Ehrbegriff infrage zu stellen. "Ein Hero, ein Held zu sein, heißt, dass man was riskiert, und das ist schon ein gewisses Risiko in unserer Gegend", erklärt Deniz selbstbewusst. Der 20jährige Gymnasiast ist einer von fünf jungen Männern, die in dem Projekt "Heroes" in Berlin-Neukölln arbeiten.
Reden über Tabus
Der Bezirk ist ein Schmelztiegel der Nationalitäten aus mehr als 160 Ländern. 40 Prozent der Bewohner sind zugewandert, in Nord-Neukölln kommen sogar 80 Prozent der unter 18-Jährigen aus Einwandererfamilien. Die Mehrheit hat türkische oder arabische Wurzeln. Und aus ihren Heimatländern haben sie auch ihre Traditionen und Wertvorstellungen mitgebracht.
Die unterscheiden sich oft sehr von denen der deutschen Gesellschaft, besonders wenn es um die Rollenmuster für Mann und Frau geht. Und genau da setzen die "Heroes" an.
"Wir reden über Themen, die nicht so angenehm sind, weil wir etwas ändern wollen", betont Ahmad Mansour nachdrücklich. Der Psychologiestudent lebt seit fünf Jahren in Deutschland und hat als Gruppenleiter Deniz, Gökay, Onur, Okcan und Turabi gemeinsam mit dem Schauspieler Yilmaz Atmaca über ein halbes Jahr lang betreut.
Die Jungs hörten sich Vorträge an, besuchten Ausstellungen und diskutierten über Themen wie Ehrenkodex, Selbstbestimmung oder Gleichstellung. Das soll sie bestärken, aus alten Denkmustern auszubrechen und sich mit überzeugenden Argumenten für ihre Schwestern oder Freundinnen einzusetzen – auch als Vorbilder für Gleichaltrige. Dazu entwickelten sie kleine Rollenspiele, die sie in Schulen oder Jugendtreffs aufführen, auch gemeinsam mit den Teilnehmern: Der Vater ist wütend, weil der Sohn nicht auf die Tochter aufgepasst hat, der Bruder schlägt seine Schwester, weil sie zu spät zu Hause war ... So erfahren Aki und Abdul direkt, wie es ist, in der Haut von Asiye oder Alima zu stecken.
Fulltimejob für "Heroes"
Auch Avni und Ufuk haben an einem Workshop in ihrer Schule teilgenommen. "Ein Mädchen wurde geschlagen, weil sie einen Minirock anhatte und nachts mit ihrem Freund spazieren war", erinnert sich der 17jährige Avni an das Rollenspiel. Viele haben gelacht und fanden es normal, wahrscheinlich, weil sie es selber erlebt haben, vermutet der 16-jährige Ufuk. Jungs und Mädchen werden unterschiedlich behandelt, sind sich beide einig.
Zu Jungs hätten die Eltern mehr Vertrauen, fügt Ufuk hinzu. "Anschließend haben wir uns unterhalten", erzählt er weiter. "Es gab verschiedene Meinungen, die Schüler haben viele Fragen gestellt und die 'Heroes' haben sie beantwortet." Wenn man anderen zuhört und versuche, sie zu verstehen, bringe das schon etwas, ist sich Ufuk sicher, der selbst keine Gewalt anwenden würde. Lehrerin Marianne Johannsen wünscht sich noch mehr solche Angebote, vor allem über einen längeren Zeitraum. Ihre Schüler haben einen so verqueren Ehrbegriff, dass er sie sogar beim Lernen behindert, selbst die kleinste Kritik geht gegen ihre Ehre. "Die 'Heroes' hätten bei uns einen Fulltimejob", meint sie. Doch das können sie nicht leisten, sie gehen ja selbst noch zur Schule oder studieren.
Zum Nachdenken bringen
Das "Heroes"-Konzept stammt ursprünglich aus Schweden. Dagmar Riedel-Breidenstein, Soziologin und Leiterin des Vereins Strohhalm e. V., holte die Idee nach Neukölln und koordiniert die Arbeit, die Soziologin Anna Rinder von Beckerath brachte ihre Erfahrungen aus einem ähnlichen Projekt in Schweden ein und leitet das Projekt gemeinsam mit der Gender-Wissenschaftlerin Jenny Breidenstein. Finanziert werden die "Heroes" seit 2007 von der "World Childhood Foundation". Wenn die zweite Gruppe ihre Ausbildung mit der feierlichen Übergabe eines Zertifikates beendet hat, werden insgesamt zwölf junge Helden zwischen 17 und 21 Jahren dabei sein. Deniz erinnert sich an seinen Start. Seine Mutter machte ihn auf das Projekt aufmerksam.
Er unterhielt sich ein paar Mal ausführlich mit Ahmad und Yilmaz und brachte dann nach und nach die anderen Jungs mit. "Meine Familie und meine Freunde stehen hinter mir und unterstützen mich", sagt er, "und wenn der eine oder andere mal komisch reagiert, stört mich das nicht". Er weiß, er kann die Jugendlichen nicht in drei Stunden ändern, aber für ihn ist es schon ein Erfolgserlebnis, wenn es ihm gelingt, sie zum Nachdenken zu bringen – wenn auch manchmal nur für einen Nachmittag. Das ist auch der Grund, warum er immer noch dabei ist.
Regina Friedrich
© Goethe-Institut 2010
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de