Eine Schule der Demokratie
In unserem Debattierclub sind die Themen Religion, Sexualität und Politik tabu." – auf diesen Grundsatz hatte man sich, so Mohamed Othman, Mitglied des Organisationskomittees des ägyptischen Debattierclubs, bei dessen Gründung im März vergangenen Jahres mit breiter Mehrheit geeinigt.
Ein Jahr später, im März 2011, kurz nach der Revolution vom 25. Januar, sieht die Sache ganz anders aus: Der Debattierclub lädt im Goethe-Institut in Alexandria zum offenen Schlagabtausch zwischen Befürwortern und Gegnern der parlamentarischen Demokratie ein. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen schafft das Goethe-Institut eine Plattform für den aktiven Meinungsaustausch unter Jugendlichen.
Pro und Kontra Parlamentarische Demokratie
"Ägypten braucht heute vor allen Dingen eines: Stabilität. Politische Entscheidungen müssen möglichst schnell umgesetzt werden. Dies ist nur möglich, wenn das politische System so angelegt ist, dass der Präsident im Alleingang schnell und unkompliziert Entscheidungen fällen kann." – so lautete in etwa der Standpunkt der Gegner der parlamentarischen Demokratie.
Die Befürworter argumentierten hingegen folgendermaßen: "Nach der Revolution erscheint dem ägyptischen Volk die Idee vom alleinigen Machthaber als nicht länger tragbar. Man will ein demokratisches System, das wiederum nur auf der Grundlage des Parlamentarismus funktionieren kann. In diesem Fall muss der Regierungschef derjenigen Partei angehören, die bei den Wahlen zur Volksversammlung die Mehrheit der Stimmen erhalten hat. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Regierung die Interessen des Volkes vertritt."
Von dieser Argumentation unbeeindruckt zeigten sich die Gegner der parlamentarischen Demokratie: "Für die Stabilität in Ägypten ist ein starker Präsident der bessere Garant. Denn in der parlamentarischen Demokratie kann das Parlament jederzeit die Regierung absetzen, was in Ägypten zu einer Reihe von unerwünschten Veränderungen führen könnte."
Daraufhin erwiderten die Befürworter: "Aufgabe der Regierung ist es, ein bestimmtes Grundsatzprogramm in die Tat umzusetzen. Gelingt ihr das nicht, muss eine neue Regierung eingesetzt werden können, die verpflichtet ist, sich weiterhin an diesem Programm zu orientieren. Somit ist die sachgemäße Abwicklung der Regierungsgeschäfte nicht von einer Einzelperson abhängig, die in diktatorischer Manier nach Belieben schalten und walten kann, sondern sie obliegen einer bestimmten Personengruppe, die an gewisse Richtlinien gebunden ist. Diese Personengruppe kann gegebenenfalls neu zusammengesetzt werden, die Richtlinien bleiben hingegen stets dieselben."
In der dritten, der so genannten "Entkräftungs-Runde", versuchte einer der Gegner der parlamentarischen Demokratie schließlich mit folgender Frage auf die Schwachpunkte des Parlamentarismus hinzuweisen: "Wie kann ein parlamentarisches System funktionieren, solange die meisten Parteien noch sehr jung und relativ unbekannt sind?"
Vorteilhafte Vielfalt
Die Reaktion der Befürworter fiel eindeutig aus: "Gerade in der Vielfalt liegt der Vorteil des Parlamentarismus. Durch eine Veränderung der Parteienlandschaft steigt die Wahrscheinlichkeit, dass im Parlament viele verschiedene Parteien vertreten sind und nicht, wie bisher, eine Partei die überwältigende Mehrheit hat."
Bei der anschließenden Podiumsdiskussion, an der sich auch die Zuhörer beteiligten, entstand der Eindruck, dass dreißig Jahre diktatorischer Herrschaft ausgereicht haben, um eine Atmosphäre der Repression entstehen zu lassen, in der sich der Gedanke, eine Regierung könne zur Rechenschaft gezogen werden, von alleine verbot. So fragten Zuhörer beispielsweise:
"Geht das denn überhaupt? Kann ein Parlament die Regierung absetzen?" Die Befürworter der parlamentarischen Demokratie bejahten diese Frage und erläuterten Beispiele hierfür aus der Praxis. Gegen Ende der Veranstaltung wurde die Gruppe der Befürworter des Parlamentarismus, auf Beschluss der Jury des Debattierclubs, zum Sieger der Debatte erklärt. Als Begründung hieß es, die Argumentation dieser Gruppe sei absolut ausgefeilt und dennoch leicht verständlich gewesen.
"Die Idee, einen Debattierclub ins Leben zu rufen, kam mir, während ich einen ausländischen Film ansah. Sie nahm konkrete Formen an, als ich bei Nachforschungen über die Debattierkunst herausfand, dass diese ihre Ursprünge bei den Arabern hat", sagt Mohamed Abdallah, Gründungsmitglied des Debattierclubs.
Teilnehmer an den Diskussionsrunden sind angehalten, abweichende Meinungen mit dem nötigen Respekt anzuhören und zu akzeptieren, sowie sich mit einzelnen Standpunkten kritisch auseinanderzusetzen. Dadurch soll u.a. eine gewisse Diskussionskultur geschaffen und gepflegt werden.
Notwendiges Auswahlverfahren
Junge Leute, die beim Debattierclub mitmachen wollen, müssen zunächst, unabhängig davon, ob sie einen akademischen Hintergrund haben oder nicht, an einem Auswahlverfahren teilnehmen. Anschließend erhalten sie dann während eines dreiwöchigen Workshops die Gelegenheit, in simulierten Diskussionsrunden Grundkenntnisse im mündlichen Verhandeln, in der Gruppenarbeit, sowie in Kommunikation und Präsentation zu erwerben.
Schließlich wird ein Diskussionsthema ausgewählt und eine weitere Woche lang vorbereitet, bevor die Diskussion dann vor einer Zuhörerschaft ausgetragen wird, die zwar nicht an der Diskussion teilnimmt, aber zumindest einen Einblick in das behandelte Thema bekommt.
Bei der Themenwahl wird darauf geachtet, dass das jeweilige Thema in der vorgegebenen Zeit ausreichend und nicht zu langatmig erörtert werden kann. Folgende Themen wurden bisher behandelt: "Frauen in Führungspositionen", "Medienzensur", "wikileaks", "Die arabische Identität Ägyptens".
Nach Ansicht von Mohamed Othman ist es heute wichtiger denn je, grundlegende Diskussionstechniken zu beherrschen. Zurzeit wird sich jedermann seines natürlichen Rechts auf freie Meinungsäußerung bewusst.
Einblicke in den politischen Alltag
Es ergeben sich vielerlei Möglichkeiten, über das Wohlergehen der ägyptischen Nation zu diskutieren. "Geht man heutzutage in ein Café", erklärt Mohamed Othman, "so sitzt dort mindestens eine Gruppe von Leuten, die über die aktuelle politische Lage in Ägypten redet. Auf der Straße wird diskutiert, auf Facebook und Twitter finden sich unzählige Diskussionsbeiträge, ebenso zahlreich sind auch die Fernsehdiskussionen und die entsprechenden Kommentare."
Die heutige Jugend trete heute vollkommen anders auf als es früher der Fall war, erklärt Othman: "Sie nimmt aktiv am politischen Leben teil, sei es bei Fernsehauftritten, Parteiveranstaltungen oder Protestaktionen. All das war vor dem 25. Januar in dieser Form nicht denkbar. Wir stehen am Anfang eines Demokratisierungsprozesses, der dazu führen soll, dass alle ihre Meinung unbehelligt äußern können. Gleichzeitig werden auf wissenschaftlicher Basis Möglichkeiten ausgelotet, eine lebendige Diskussionskultur zu schaffen."
Der Debattierclub will seine Tätigkeit in Zukunft noch ausweiten und strebt an, einige grundsätzliche Verhaltensregeln für die Beteiligung der Bürger am politischen Leben zu thematisieren, damit diese sich beispielsweise in Zukunft aktiver beteiligen und auf den Verkauf ihrer Wählerstimme verzichten.
In diesem Zusammenhang soll auch die kritische Beleuchtung von Wahlprogrammen an Schulen und Universitäten vorangetrieben werden, ebenso wie die regelmäßige Durchführung von Diskussionsveranstaltungen am Goethe-Institut in Alexandria, bei denen dann Themen zur Sprache kommen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der derzeitigen Lage in Ägypten stehen.
Noha Abdel-Rassoul
© Goethe-Institut 2011 Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de