Die geschundene Stadt
"Dubai." Da ist es wieder, dieses Wort, das für alles steht, was den Irakern fehlt. Und wovon sie träumen: Wohlstand, Ansehen, Frieden, auch Freiheit. Das reiche Emirat am Golf ist die Chiffre für eine bessere Zukunft, für unerfüllte Hoffnungen.
Wo er Basra in zehn oder zwanzig Jahren sieht, ist Subeh al-Hashemi gefragt worden, und der Mann mit schwarzer Krawatte zum dunkelblauen Jackett muss nicht lange überlegen. "Dann", sagt er, "geht es der Stadt besser als Dubai."
Nun mag man einwenden, dass es zu Subeh al-Hashemis Aufgaben gehört, Basra für Investoren aus dem Ausland interessant zu machen. Der Herr mit den gepflegten grauen Haaren ist Vorsitzender des Unternehmerverbandes der Stadt und in dieser Funktion auch so etwas wie ein Verkäufer, ein Werber.
Wie er da so an seinem aufgeräumten Holzschreibtisch sitzt, den Rücken aufrecht, erzählt er viel Gutes über Basra. Er mag den Irak. Hinter seinem Sessel steht eine große Flagge des Landes, Rot-Weiß-Schwarz, die Fahnenstange glänzt in Gold. So jemand muss Optimismus verbreiten.
Kein Mangel an potenziellem Reichtum
Andererseits geben auch die Fakten al-Hashemi Recht. Der Irak besitzt gigantische Erdölvorkommen. Mindestens 143 Milliarden Barrel schlummern tief unter der Erde, wahrscheinlich sogar noch viel mehr. 70 Prozent davon kommen aus Basra und der näheren Umgebung. An potenziellem Reichtum jedenfalls mangelt es der rund 550 Kilometer südlich von Bagdad gelegenen Stadt nicht. Subeh al-Hashemi ist deshalb überzeugt: "Die Voraussetzungen hier sind viel besser als in Dubai."
Basra hat noch viel mehr zu bieten als seinen Erdölreichtum. Nicht weit entfernt im Norden fließen Euphrat und Tigris zum Schatt al-Arab zusammen, der sich seinen Weg zum Golf mit stoischer Ruhe mitten durch die Stadt bahnt. Die langgezogene Corniche am Ufer ist eine wunderbare Promenade für einen Spaziergang, vorbei an Restaurants, an Palmen oder an einem Riesenrad, das etwas in die Jahre gekommen ist. Schiffe tuckern über das Wasser. Basra, das ist auch eine Stadt mit Seele.
Der Weg zur Küste ist nicht weit, 90 Minuten mit dem Auto. Basra liegt strategisch günstig, eigentlich ideal, um eine Handelsmetropole zu sein, ein Umschlagplatz für Waren, die von Ost nach West und von West nach Ost transportiert werden. Kurz: Basra hat vieles vorzuweisen, was Dubai fehlt. Eigentlich.
Und hier beginnt das große Rätsel: Warum ist diese Stadt, die so reich ist an Potenzial, noch immer so heruntergekommen? Warum ist fast jedes Gebäude beschädigt? Warum ist die Infrastruktur auch zehn Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins so zerstört? Warum verstopft jeden Tag der Verkehr die löchrigen Straßen? Warum liegt auf den Bürgersteigen so viel Müll herum, dass es in manchen Ecken sprichwörtlich zum Himmel stinkt? Warum versperren noch immer unzählige Wracks aus drei Jahrzehnten anderen Schiffen auf dem Schatt el-Arab den Weg? Warum, warum, warum?
Längst verblichener Glanz
Basra, das war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zumindest in Teilen eine moderne Stadt. Bilder von früher zeigen Straßen mit Häusern, die ein bisschen an Bauhaus erinnern. Elegante Limousinen rollen über glatten Asphalt, die Bürgersteige sind gefegt, als wäre die Kehrwoche gerade erst vorbei.
Das Wasser der vielen Kanäle und kleinen Flüsse, die durch das "Venedig des Nahen Ostens" fließen, ist klar. Nicht zu vergessen die vielen Palmen am Ufer des Schatt, eine langgezogene grüne Lunge inmitten der Wüste. Basra war damals ein Ort, den man gerne besucht hätte.
Heute verirren sich nur noch wenige Gäste hierher. Nur wer Geld verdienen möchte, findet den Weg in die Stadt. Gäbe es die alten Fotos nicht, es fiele einem im Basra von heute schwer, sich das Basra von früher vorzustellen – es sind zwei völlig unterschiedliche Welten.
Am schlimmsten steht es um die Altstadt, die wie kaum eine andere auf der Welt diesen Namen verdient. Alt, das heißt hier heruntergekommen, zerstört, einsturzgefährdet. Staubige Gassen und Straßen führen durch das Viertel, das einmal prächtig gewesen sein muss. Halb eingerissene Mauern aus Stein, zerfressenes Holz, eingeworfene Fenster, löchrige Dächer, schiefe Türen, dazwischen wild verlegte Stromkabel und Rohre, die ins Nichts führen – heute gibt es kaum ein Gebäude, dessen Zustand nicht beklagenswert wäre.
Verlorenes Kulturerbe
Hier geht ein jahrhundertealtes Kulturerbe verloren, die typischen Häuser Basras mit Holzvorbauten, die früher vor Licht, Hitze und neugierigen Blicken schützten. Und mitten durch die Altstadt fließen Kanäle voller Müll, mehr Kloake als lebendes Gewässer. Das einzige, was der Stadtverwaltung als Gegenmaßnahme einfällt, sind Schilder mit der Aufschrift: "Bitte keinen Abfall ins Wasser werfen!" Basra, im Jahr 2013, das ist auch die Geschichte von Zerfall und Niedergang.
Hashim Tayih, 64 Jahre alt, hat für all das nur eine Beschreibung: "Das ist eine Katastrophe." Wenn er über Basra spricht, dann sind aus seinem Ton Wehmut und Empörung herauszuhören. Wehmut über das, was die Stadt verloren hat. Und Empörung darüber, wie es ihr heute geht – und dass niemand dagegen etwas tut. Er weiß, wovon er redet. Hashim Tayih – lichtes graues Haar, weiche Augen – ist in der Stadt geboren. Er hat hier sein ganzes Leben verbracht. Und er wird hier wahrscheinlich sterben.
Jetzt sitzt Tayih in einem der wenigen Häuser der Altstadt, das wenigstens halbwegs renoviert ist, und wartet auf Besucher. Im Foyer zeigt der Künstler seine Werke, Bilder und Skulpturen, die er aus dem gemacht hat, was er auf der Straße findet.
Er will den tristen Alltag und die Kultur zusammenbringen. Basra war früher berühmt für seine Dichter, Denker, Musiker und Künstler. Heute kämpfen die meisten Menschen ums tägliche Überleben, da bleibt nicht mehr viel Zeit für die schönen Künste. "Sie kommen nicht wie einst", sagt Tayih. "Früher war es normal, Kultureinrichtungen zu besuchen. Aber das hat sich total geändert."
Inmitten der Front
Es lässt sich ziemlich genau sagen, wann der Zerfall begann: 1980, als Saddam Hussein meinte, es sei der passende Zeitpunkt gekommen, um dem Iran einen entscheidenden Schlag zu versetzen, und der Diktator seine Truppen auf den schiitischen Nachbarn hetzte. Es folgte ein achtjähriger Krieg, der zu den schlimmsten der Moderne zählte. Basra, nur wenige Kilometer von der iranischen Grenze entfernt, litt wie kaum eine andere Stadt.
Die Front lief mitten durch die Stadt, iranische Raketen hagelten auf die Dächer, Giftgasangriffe töteten unzählige Menschen. Als das sinnlose Gemetzel endlich vorbei war, hatte es nicht nur Häuser und Straßen zerstört, sondern auch die Seelen der Menschen. Zurück blieben eine geschundene Stadt und eine verwundete Gesellschaft.
Danach folgten: der erste Irak-Feldzug der internationalen Gemeinschaft Anfang der 1990er Jahre, lang anhaltende UN-Sanktionen, Repressionen des sunnitischen Regimes gegen die Schiiten im Süden, der Angriff der "Koalition der Willigen" und der Sturz Saddam Husseins, die Besatzung und schließlich der Bürgerkrieg. Und fast immer traf es Basra besonders schlimm. Wer heute 30 Jahre alt oder jünger ist, der kennt nichts anderes als Elend und Zerstörung.
Zehn Jahre liegt der Sturz Saddams zurück, auch der Bürgerkrieg ist vorbei, doch aufwärts ging es trotz des Reichtums bislang kaum. Gründe dafür gibt es viele. Die Diktatur hat die Menschen über Jahrzehnte entmündigt. Eine Zivilgesellschaft, die Verantwortung für das Gemeinwesen übernimmt, die sich engagiert und die Politik unter Druck setzt, existiert praktisch nicht.
Vor allem leidet Basra aber unter der starken Zentralisierung des Landes. Woran das liegt, kann kaum jemand so gut erklären wie Nabil Jaffar, Wirtschaftsprofessor an der Universität der Stadt. Der kleine Herr mit Schnauzbart hat ein Buch über das Investitionsklima in Basra geschrieben. Fazit: Es liegt vieles im Argen.
An Geld mangelt es nicht. Wegen der großen Ölvorräte erhalte die Region mehr Finanzmittel als die anderen Provinzen des Landes, sagt Jaffar. Doch die Politik schaffe es nicht, das Geld richtig auszugeben. "Vor allem zwischen 2003 und 2010 hat Basra die Chance verpasst, aus den vorhandenen Ressourcen Profit zu ziehen", sagt Jaffar.
Die Kompetenzen der Provinz sind begrenzt. Jede Investition über 250 Millionen US-Dollar braucht den Segen der Nationalen Investitionskommission in Bagdad. Auch sonst will die Zentralregierung überall mitreden, etwa bei ausländischen Investitionen. "Der Provinz sind noch immer die Hände gebunden", sagt Jaffar.
Zudem fehlt es in den Verwaltungen häufig an dem nötigen Wissen. Weil nach dem Sturz Saddams die Mitglieder der bis dahin regierenden Baath-Partei nicht nur aus den führenden Positionen, sondern auch aus den zweiten und dritten Reihen entfernt wurden, ging auch das nötige Know-how verloren – die Kehrseite der "Ent-Baathisierung".
Nicht zu vergessen die "Überbürokratisierung" des Landes: Viele Verwaltungen sind bis heute unfähig, Entscheidungen zu treffen, weil Verantwortlichkeiten von einer Stelle zur nächsten geschoben werden. "Wenn Sie in Dubai ein Unternehmen starten wollen, dann können sie das in wenigen Stunden tun", sagt Jaffar. "In Basra brauchen Sie dafür 77 Tage."
Ist Basra also trotz des Reichtums ein hoffnungsloser Fall? Mitnichten. Trotz der schlimmen Facetten der Stadt sind auch Anzeichen dafür zu finden, dass es aufwärts geht. Sehr deutliche Anzeichen sogar. Zwar will Wirtschaftsprofessor Nabil Jaffar nichts davon wissen, dass Basra in zehn oder zwanzig Jahren Dubai überholt haben wird. Er ist Wissenschaftler, kein Träumer. Überhaupt hält er den Vergleich für unpassend, weil das Emirat fast keine Ölvorräte besitzt und sehr abhängig vom großen Bruder Abu Dhabi ist.
Hoffnung auf bessere Zeiten
Trotzdem glaubt auch Jaffar an bessere Zeiten: "In zehn Jahren wird Basra die größte ölproduzierende Stadt der Welt sein." Von dem vielen Geld werde auch die Infrastruktur profitieren, prophezeit der Wirtschaftsprofessor. Die Provinz kämpft zudem darum, mehr Kompetenzen zu bekommen. Manche Politiker fordern sogar, die Region müsse so autonom werden wie die kurdischen Gebiete.
Eine wichtige Voraussetzung für bessere Zeiten ist schon erfüllt: Die Sicherheitslage in Basra zeigt sich wesentlich stabiler als in vielen anderen irakischen Städten. Der letzte große Anschlag ist hier, im Gegensatz zu Bagdad, Mosul oder Kirkuk, inzwischen lange her.
Noch immer sichern zwar etliche Checkpoints die Straßen, und hohe Mauern schützen viele Gebäude, wie etwa das erste Hotel am Platz, das Basra International. Einheimische und Besucher können sich trotzdem recht unbehelligt durch die Stadt bewegen. Wenn also in einer irakischen Stadt außerhalb der kurdischen Gebiete ein Aufschwung einsetzen könnte, dann in Basra.
Dazu beitragen soll ein Milliardenprojekt rund 100 Kilometer südlich von Basra: der neue Großhafen Al-Fao im Golf. Noch schütten hier Lastwagen die Erde zu Wällen auf, noch immer wird das Gebiet nach Minen abgesucht, den gefährlichen Hinterlassenschaften des Irak-Iran- Krieges. Doch 2017, so die Hoffnung, könnten die ersten Schiffe in dem Tiefseewasserhafen anlegen.
100 Millionen Tonnen Güter sollen hier eines Tages umgeschlagen werden, so der Plan. Noch gibt es Zweifel, ob das Projekt überhaupt rentabel sein kann – überall in der Region entstehen große Häfen, nicht zuletzt der Mubarak-Port in Kuwait unweit von Al-Fao.
Trotzdem ist As'ad Abdelrahim Rashid, Chef-Ingenieur von Al-Fao, zuversichtlich: "Der Irak ist total zerstört, alles muss wieder aufgebaut werden. Es gibt Bedarf an so ziemlich allen Gütern in riesigen Mengen, da brauchen wir maximale Transportkapazitäten", sagt er. "Der Hafen ist ein großer Traum. Aber alles sollte mit einem großen Traum beginnen."
Woanders hat die Zukunft Basras schon begonnen, etwa 20 bis 30 Minuten mit dem Auto von der Innenstadt entfernt. Dort steht Aswan Jawad, ein kleiner Mann mit Schnauzbart und rundem Bauch, auf einem Rasen, der so grün ist, dass die Platzwarte von Wimbledon neidisch werden könnten. Kein Wunder: Der Rasen, erzählt Jawad, sei von einer englischen Firma angepflanzt worden.
Prunkstück Sportstadt
Hier am Stadtrand wächst ein Bau, der nicht nur der Stadt, sondern dem ganzen Land etwas Stolz und noch mehr Hoffnung zurückgeben soll: "Al-Madina al-Riyadiya", die Sportstadt von Basra. Herzstück ist ein Fußballstadion, dessen Form einer Dattel nachempfunden ist und das entfernt an die "Allianz-Arena" in München erinnert.
65.000 Zuschauer werden hier in nicht allzu ferner Zukunft Tore der irakischen Nationalelf bejubeln. Zu der Sportstadt gehören auch ein zweites Stadion für 10.000 Besucher, vier Trainingsfelder und Hotels. Rund 450 Millionen US-Dollar gibt das irakische Sportministerium für das Vorzeigeprojekt aus. In einer zweiten Phase sollen noch Hallen für Handball, Basketball, Volleyball und Schwimmen gebaut werden.
Aswan Jawad, ein freundlicher Herr, ist kaum zu bremsen, wenn er über das Stadion spricht. Als Fußballfan hat er schon einige Arenen in der arabischen Welt gesehen – keine andere aber sei so schön und groß wie diese, vielleicht mit Ausnahme des König-Fahd-Stadions in der saudischen Hauptstadt Riad.
"Alle Iraker, die das Land lieben, und alle hier in Basra sind stolz auf das Stadion", schwärmt Jawad. Eigentlich sollte schon 2013 die Fußball-Meisterschaft der Golfstaaten in Basra ausgetragen werden. Doch weil sich der Bau verzögerte, wurden die Spiele nach Bahrain verlegt. Jetzt hoffen die Iraker darauf, 2015 Gastgeber des nächsten Golf-Cups zu werden.
Bei dem Turnier Anfang dieses Jahres standen sich der Irak und die Vereinigten Arabischen Emirate im Finale gegenüber. Zumindest im
Fußball ist der Irak mit Dubai auf Augenhöhe.
Jan Kuhlmann
© Qantara.de 2013
Die Reportage ist erschienen in dem Magazin ".iq – Der Irak: Porträt eines unbekannten Landes" Das Magazin wurde als Teil der Wirtschaftsplattform (www.wp-irak.de) Irak mit Mitteln des Auswärtigen Amtes finanziert. Die Wirtschaftsplattform Irak und ".iq" sind Publikationen von Media in Cooperation and Transition gGmbH (mict, www.mict-international.de). Das Magazin ist auf Deutsch und auf Arabisch erschienen und kann unter www.wp-irak.de bestellt werden.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de