Korruptionsbekämpfung als Allheilmittel?

Die Muslimbruderschaft sieht in der freien Marktwirtschaft und in der Bekämpfung der Korruption die Lösung aller wirtschaftlichen Probleme am Nil. Doch kann sie hierzu kein dezidiertes Programm vorlegen. Von Frederik Richter

Die Muslimbruderschaft sieht in der freien Marktwirtschaft und in der Bekämpfung der Korruption die Lösung aller wirtschaftlichen Probleme am Nil. Doch kann sie hierzu kein dezidiertes Programm vorlegen. Frederik Richter informiert aus Kairo

Mehdi Akef, Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft in Kairo, Foto: AP
Noch viele offene Fragen in wirtschaftspolitischer Hinsicht - die Muslimbruderschaft unter ihrem neuen Führer Mehdi Akef

​​Hazem Farouk sitzt in seiner kleinen Zahnarztpraxis im Kairoer Stadtteil Shobra, in der es nicht viel mehr gibt als einen gebrauchten Behandlungsstuhl aus Deutschland.

Vor ihm liegt ein Stapel handgeschriebener Zettel, auf denen er einige Gedanken über die ägyptische Wirtschaft aus islamischer Sicht vorbereitet hat. Denn Farouk ist nicht nur Zahnarzt, sondern auch Parlamentsabgeordneter.

Der Islam als Lösung auch in Wirtschaftsfragen?

Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst hat er – genau wie 87 weitere Mitglieder der Muslimbrüder – einen Sitz im Parlament gewonnen. Jetzt soll er mitbestimmen, was in Ägypten Gesetz werden soll und wie das Land seine Wirtschaft gestalten will. "Wir müssen eigene Ideen entwickeln – aus unserer Umgebung und aus unserer Gemeinschaft", sagt Farouk.

Shobra und die Gebiete nördlich davon waren früher ein Zentrum der ägyptischen Textilindustrie. Heute ist die industrielle Infrastruktur verkommen und die Arbeitslosigkeit hoch.

Die Wahlen haben klar gemacht, dass die Bruderschaft die populärste politische Kraft in Ägypten ist. Seitdem fragen sich internationale Investoren, ausländische und ägyptische Unternehmer, was geschehen könnte, wenn die Bruderschaft eines Tages das Land regiert oder auch nur an der Regierung beteiligt wird?

Kein Wirtschaftsprogramm in Sicht

Die Muslimbrüder verfügen inzwischen über eine Art Fraktion im Parlament. Doch ein dezidiert ausgearbeitetes Wirtschaftsprogramm, das über eine Orientierung an einigen moralischen Prinzipien hinausgeht, lässt sich nicht erkennen. Die Muslimbrüder betonen den Wert von Arbeit und Arbeitsethik, den gewissenhaften Umgang mit öffentlichen Mitteln und wenden sich gegen Monopole sowie unlauteren Wettbewerb.

Schon in den 80er Jahren, lange bevor die ägyptische Regierung ein von außen aufgezwungenes Privatisierungsprogramm auch wirklich umsetzte, forderte die Bruderschaft weniger Staatswirtschaft sowie die Förderung von kleinen Unternehmen. Sie setzt auf freie Marktwirtschaft.

Durch ihre moralischen Anschauungen rücken zwei Punkte ins Zentrum ihres wirtschaftspolitischen Denkens, die in der Tat zentrale Probleme der ägyptischen Wirtschaft ansprechen: die hohe Arbeitslosigkeit und die Korruption. Laut OECD liegt die Arbeitslosigkeit in Ägypten bei über 17 Prozent.

"Für die Muslimbrüder ist Arbeitslosigkeit eher ein politisches als ein wirtschaftliches Problem", berichtet Diaa Rashwan, führender Analyst am "Al-Ahram-Zentrum für Strategische und Politische Studien" in Kairo. Die Arbeitslosigkeit gefährde aus Sicht der Bruderschaft vor allem den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft.

Korruption als Wurzel allen Übels

Doch Rashwan glaubt nicht, dass die Organisation eine überzeugende Lösung für das Problem parat hat. Das gilt allerdings auch für jede andere politische Kraft im Land. Für die Bruderschaft ist die in Ägypten weit verbreitete Korruption die Wurzel allen Übels.

"Wir müssen alle Arten von Korruption bekämpfen, indem wir den Glauben in den Herzen stärken und die vorhandenen Gesetze gewissenhaft anwenden", meint Hazem Farouk. Doch der Kampf dagegen wird schnell zu einem wirtschaftspolitischen Allheilmittel erklärt – nach der Devise: Wie stimuliert man Wirtschaftswachstum? Durch Korruptionsbekämpfung. Und wie schafft man Arbeitsplätze? Durch Korruptionsbekämpfung.

Traditionell vergibt die Bruderschaft Kredite an kleine Unternehmer, um sich deren politische Unterstützung zu sichern. Durch ihre Geschichte als meistens tolerierte, aber immer verbotene Untergrundorganisation leben die Muslimbrüder von ihrer Basisarbeit in vielen sozialen Projekten.

Hilfe für kleine und mittelständische Unternehmen

Daher sehen sie in der Förderung von kleinen und mittelständischen Unternehmen einen Schlüssel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Doch wie gestaltet sich ein solches Mikro-Kreditprogramm? "Wenn wir Korruption bekämpfen, ergibt sich alles andere von selbst", so Farouks lapidare Antwort hierauf.

Abdel Hamid El Ghazaly gibt da genauere Anworten. Er ist Ökonomie-Professor an der Universität Kairo, hat einen Studienabschluss der "London School of Economics" und einen Doktorgrad der Universität Edinburgh. Er ist heute der führende Wirtschaftsexperte der Muslimbruderschaft und vertritt die Meinung der Organisationsführung.

"Im Großen und Ganzen unterscheidet sich unser Programm nicht so sehr von dem anderer politischer Kräfte in Ägypten", sagt El Ghazaly. Durch die gezielte Förderung von Tourismus, Landwirtschaft, und dem Mittelstand wolle die Bruderschaft das Wirtschaftswachstum ankurbeln. Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze sollen in Investitionen in arbeitsintensive Industrien gelenkt werden.

Die Versorgung der Bevölkerung, die zu einem großen Teil unter der Armutsgrenze lebt, soll verbessert werden, indem die Produktion von elementaren Gütern wie Lebensmittel, Kleidung und die Bauwirtschaft gefördert werden. Ghazaly fügt hinzu, dass damit technologie-intensive Produktionen sowie Luxusgüter keinesfalls außen vor bleiben sollen.

Offene Fragen im Bankensektor

Westliche Investoren seien weiterhin willkommen, so die Muslimbruderschaft. Deren größte Sorge wäre der Banken-Sektor. Denn Zinsen sind im islamischen Wirtschaftsmodell verboten. Islamische Banken leihen Geld, dann werden die Gewinne oder Verluste der Anlage zwischen Kreditnehmern und –gebern solidarisch geteilt.

Was würde die Bruderschaft also aus dem Banken-Sektor machen, den die ägyptische Regierung vor kurzem erst kräftig für ausländische Investoren geöffnet hat? Hier bleiben die Aussagen von El Ghazaly und anderen Führungsmitgliedern der Bruderschaft vage.

"Was auch immer wir machen – unser Prinzip ist ein schrittweises Vorgehen." Mit diesen Worten versucht El Ghazaly die Angst vor unberechenbaren Änderungen zu nehmen. Sicherlich würde die Bruderschaft den Anteil von islamischen Banken ausbauen, aber es bleibt fraglich, ob nicht-islamische Banken weiterhin zugelassen wären.

Sicher ist, dass die Muslimbrüder die islamische Almosen-Steuer ("zakaat"), die 2,5 Prozent des jährlichen Einkommens entspricht, als Pflicht-Steuer einführen will, um die enormen Wohlstands-Unterschiede in der ägyptischen Gesellschaft auszugleichen. Das gegenwärtige Steuer- und Subventionssystem in Ägypten leistet fast keine Umverteilung.

Unter politischem Zugzwang

Auch wenn der Block der Bruderschaftsabgeordneten sehr viel geschlossener und motivierter auftritt als die überwältigende, aber sehr heterogene Mehrheit der Regierungspartei NDP, wird die Bruderschaft kaum Einfluss auf die Gesetzgebung haben.

Trotzdem kann die Parlamentsarbeit zu einer Art Parteiprogramm führen. Diaa Rashwan glaubt, dass ihr Sieg auch für die Muslimbruderschaft ein Schock war, und diese sich jetzt weiterentwickeln muss. "Jetzt können sie jeden Moment gefragt werden, was ihre Meinung zu diesem und jenem Thema ist."

Seit ihrem Bestehen sind die Muslimbrüder auch selber als Unternehmer aktiv. "Einzelne Mitglieder führen Unternehmen, aber nicht die Organisation selbst", gibt Essam El Erian, Sprecher der Muslimbrüder, die offizielle Lesart wieder.

Mitglieder der Gruppe sind vor allem in der Bauwirtschaft, in der IT-Branche sowie im Textilbereich und Gastronomiegewerbe aktiv. Die Organisation soll außerdem hunderte Millionen Dollar in der Golfregion investiert sowie in Japan und Südkorea angelegt haben. Allein deswegen haben die Muslimbrüder kein Interesse an einer staatlich gelenkten, wirtschaftsfeindlichen Politik.

Frederik Richter

© Qantara.de 2006

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