"Morgen wird alles schlimmer"
"Morgen wird alles schlimmer. Berichte aus Palästina und Israel" heißt das dritte, auf Deutsch vorliegende Buch von Amira Hass, in dem sie alltägliche Erlebnisse in der Westbank und dem Gazastreifen in dem Zeitraum zwischen Februar 2001 bis Juni 2006 notiert.
Es gibt eine Schlüsselszene, die Amira Hass wiederholt beschrieben hat: Während ihre Mutter und andere Jüdinnen ins Konzentrationslager Bergen-Belsen transportiert werden, stehen deutsche Frauen am Straßenrand und schauen tatenlos und "mit gleichgültiger Neugier" zu.
Amira Hass, Tochter rumänischer Holocaust-Überlebender, will auf keinen Fall tatenlose Zuschauerin sein. Deshalb hat sie vor 13 Jahren entschlossen, ihren Wohnsitz in die besetzten Gebiete zu verlegen und von dort aus zu arbeiten. Derzeit lebt sie in Ramallah.
Im Mittelpunkt ihrer "Berichte aus Palästina und Israel" stehen Begebenheiten, Beobachtungen und einzelne Schicksale - Mosaiksteinchen des palästinensischen Alltags. Denn der Autorin geht es nicht um Spektakuläres, sondern um Strukturen. Das gilt auch für die beiden im Buch enthaltenen Essays über Israels Abriegelungspolitik und Kolonialismus.
Systematische Abriegelungspolitik
Im September 2000 beginnt die zweite Intifada. Die israelische Regierung isoliert systematisch Städte und Dörfer im Westjordanland und im Gazastreifen durch Checkpoints und Straßensperren. Das Grundrecht auf Freizügigkeit wird zu einem "begehrten Privileg".
Und weil dieses den Privilegierten nach Gutdünken gegeben und genommen wird, hat die Abriegelung nicht nur das palästinensische Territorium geteilt, sondern auch die palästinensische Gesellschaft. Und den Bewohnern wird nicht nur Raum, sondern auch unwiederbringliche Zeit gestohlen: Für jede 25-Minuten-Fahrt brauchen sie rund drei Stunden.
Warum gibt es keinen organisierten Widerstand dagegen, sondern nur individuelle Versuche, Kontrollposten zu umgehen? Weil die israelische Regierung es versteht, die Absperrung als Ad-hoc-Maßnahme darzustellen, antwortet Amira Hass.
Und weil den Palästinensern die Vorkämpfer fehlen. Der Palästinensischen Autonomiebehörde kam die Abriegelung anfangs sogar gerade recht, sorgte sie doch dafür, dass die Bevölkerung wirtschaftlich abhängiger von ihr wurde und besser zu kontrollieren war.
Für Amira Hass ist klar: Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist ein asymmetrischer, weil erstere die strukturelle Gewalt ausüben. Folglich nennt sie die Besatzung "Kolonialherrschaft" und die Siedlungen "Kolonien" in einem System der "Apartheid".
Undemokratische Autonomiebehörde
Dabei ist die Autorin nicht blind für Versäumnisse und Verbrechen der anderen Seite. Immer wieder prangert sie das undemokratische Gebaren der Autonomiebehörde an, "eine Nomenklatur, die von internationalen Spenden profitiert", die Geld verprasst, "das im Überfluss vorhanden ist, die Mehrzahl der Bevölkerung jedoch niemals erreicht."
Die Menschen in Gaza und der Westbank erleben stattdessen "routinemäßige Katastrophen" oder "katastrophale Routine", wie Amira Hass beschreibt:
Wenn jüdische Siedler beispielsweise palästinensische Bauern hindern, ihre Oliven zu ernten und die Armee den Konflikt "löst", indem sie die Ernte untersagt - als die Siedler ohnehin schon den Ertrag zweier Jahre gestohlen haben.
Wenn ein palästinensischer Student, der seit Jahren ohne Erlaubnis in Ramallah lebt, weil die israelische Regierung ihm - wie Hunderten anderer - den Umzug in die Westbank untersagt, täglich die Deportation nach Gaza befürchtet - fort von Frau, Sohn und Studium.
Eindrückliches Protokoll
Auf der anderen Seite hat Amira Hass beobachtet, dass viele Hamas-Mitglieder und andere israelische Juden sich durch den persönlichen Kontakt mit ihr von Befürwortern zu strikten Gegnern von Selbstmordattentaten wandeln. "Es ist immer erfrischend", bekennt die Autorin, "wenn ein Stereotyp Sprünge bekommt."
Amira Hass' Buch ist ein eindrückliches, oft erschütterndes Protokoll einer vielschichtigen Realität, die wissenschaftliche Analysen selten und unsere herkömmlichen Medien nie so differenziert darstellen. Nur eins ist es nicht - zuversichtlich.
"Manchmal, und das geschieht immer häufiger, fehlen mir ganz einfach die Worte. Die Gedanken weigern sich, sich in Worte, Sätze und geregelte Syntax fassen zu lassen. Anscheinend gibt es nichts Neues zu sagen. Es ist immer das Gleiche, nur immer noch schlimmer."
Beate Hinrichs
© Qantara.de 2006
Amira Hass: Morgen wird alles schlimmer. Berichte aus Palästina und Israel. Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser. Verlag C.H. Beck, September 2006. 208 Seiten, 19,90 Euro.
Qantara.de
Interview
Friedensprozess als leere Worthülse
Amira Hass ist die einzige israelische Journalistin, die den Alltag der Palästinenser lebt, über den sie schreibt. In einem Interview berichtet sie über ihr neustes Buch „Gaza“ und über die Situation der palästinensischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten.
Der palästinensische Kosmos
Die Journalistin Amira Hass lebt als einzige Israelin seit zwölf Jahren im palästinensischen Autonomiegebiet. Lennart Lehmann hat ihr auf Deutsch erschienenes Buch gelesen.
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Nähere Informationen zu "Morgen wird alles schlimmer" auf der Website des C.H.Beck Verlags