Völkerrechtliches Dilemma
Bereits seit mehr als zwei Wochen wird intensiv über die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen diskutiert. Als Erste brachte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, in Genf eine solche Maßnahme ins Spiel.
Sollten sich die Berichte über Luftangriffe auf Zivilisten als wahr herausstellen, sei die Errichtung einer Flugverbotszone zum Schutz der Bevölkerung sofort nötig, erklärte Pillay bereits am 23. Februar. Seitdem fliegt die Luftwaffe von Diktator Gaddafi verstärkt Angriffe - nicht nur gegen Stellungen bewaffneter Aufständischer, sondern auch gegen zivile Ziele.
Doch eine Entscheidung ist nach wie vor nicht absehbar. Es überwiegen völkerrechtliche, politische und praktische Bedenken. Unerlässliche völkerrechtliche Grundlage für die Schaffung einer Flugverbotszone ist ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates. Das betonen - zumindest bislang noch - ausnahmslos alle an der öffentlichen Diskussion Beteiligten.
Sonderfall Bürgerkrieg
Doch nicht nur die beiden ständigen, vetoberechtigten Ratsmitglieder Russland und China, auch westliche Völkerrechtsexperten äußern grundsätzliche Bedenken gegen einen Eingriff in die Souveränität des UNO-Mitgliedes Libyen.
Der renommierte deutsche Staatsrechtler Reinhard Merkel erklärte Ende Februar in einem Interview mit der Berliner "tageszeitung", in Libyen finde "ein Art Bürgerkrieg statt, und angesichts eines Bürgerkrieges gibt es grundsätzlich kein völkerrechtliches Interventionsrecht".
Merkel ist entschiedener Kritiker des Kosovokrieges der NATO 1999, weil er nicht vom UNO-Sicherheitsrat mit einem entsprechenden Mandat versehen war.
Jetzt betonte er, eine militärische Intervention in Libyen sei nur möglich, wenn der Sicherheitsrat zuvor feststellt, dass der Konflikt in Libyen eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellt. Davon sei die Situation in Libyen aber derzeit weit entfernt. Und "noch weiter wohl von der ohnehin umstrittenen Eingriffsschwelle für eine echte humanitäre Intervention".
Internationale "Schutzverantwortung"
Mit der umstrittenen Eingriffsschwelle ist die"Schutzverantwortung" der Internationalen Gemeinschaft ("Responsibility to protect") gemeint, die dann eintritt, wenn eine Regierung nicht willens oder in der Lage ist, die eigenen Staatsbürger vor Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.
Beim New Yorker UNO-Gipfel 2005 wurde das Prinzip der "Schutzverantwortung" von den anwesenden 175 Staats- und Regierungschefs zwar per Akklamation gebilligt. Bis heute ist es allerdings kein verbindliches Völkerrecht.
Die Befürworter einer Flugverbotszone hingegen halten die Voraussetzungen zur Wahrnehmung der internationalen Schutzverantwortung in Libyen für gegeben. Selbst der UNO-Sicherheitsrat hat in seiner - mit den Stimmen Russlands und Chinas - einstimmig beschlossenen Libyen-Resolution vom 26. Februar erklärt, dass die schon bis zu diesem Datum begangenen Gewalttaten des Gaddafi-Regimes mit über 1.000 Todesopfern "mutmaßlich den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfüllen".
Und der Rat beauftragte den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), wegen dieser mutmaßlichen Verbrechen ein Ermittlungsverfahren gegen Gaddafi und Mitglieder seines Regimes einzuleiten. Das ist inzwischen geschehen.
Sofortiges Eingreifen erforderlich?
Bis jedoch vielleicht ein Urteil des ICC erfolgt, das beweiskräftig Verbrechen gegen die Menschlichkeit feststellt, können Jahre vergehen. Solange kann man nicht warten. Allein die Gefahr weiterer mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfordere ein sofortiges Eingreifen, argumentieren die Befürworter einer Flugverbotszone.
Das völkerrechtliche Dilemma bleibt und lässt sich wahrscheinlich nicht sauber auflösen. Auch die beiden historischen Präzedenzfälle Bosnien und Irak taugen zur Klärung nur bedingt. 1993 beschloss der UNO-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina, um weitere Angriffe serbischer Kampfflugzeuge auf zivile Ziele zu verhindern. Als die Serben das Flugverbot missachteten, ermächtigte der Sicherheitsrat die NATO zum Abschuss der Kampfflugzeuge.
Im Fall Irak gab es keinen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates. Dessen drei westliche Veto-Mächte USA, Großbritannien und Frankreich beschlossen nach Ende des zweiten Golfkrieges im Frühjahr 1991 die Einrichtung einer Flugverbotszone zunächst über Nordirak und später auch über dem Süden des Landes.
Begründet wurden diese Maßnahmen mit dem Schutz der kurdischen und schiitischen Minderheiten vor dem Regime von Saddam Hussein. Weil die USA und Großbritannien die beiden Flugverbotszonen jedoch zunehmend zu Spionageflügen und zu Luftangriffen auf Ziele in der irakischen Zentralzone um Bagdad nutzten, stieg Frankreich 1994 aus.
Auch mit Blick auf Libyen ist ein eigenmächtiges Handeln der drei Westmächte sowie eventuell weiterer NATO-Staaten ohne Beschluss des UNO-Sicherheitsrates nicht völlig auszuschließen. Insbesondere die britische Regierung erweckt mit harscher Rhetorik den Eindruck, sie sei dazu bereit.
Dennoch scheint ein solches Szenario nach dem bisherigen Verlauf der Diskussion eher unwahrscheinlich. Denn in den politischen Eliten und in der militärischen Führung der NATO-Bündnisvormacht USA gibt es parteiübergreifend erhebliche Bedenken.
Flugverbotszone bedeutet Krieg
Die effektive Durchsetzung einer Flugverbotszone "bedeutet Krieg", erklärte Verteidigungsminister Robert Gates. Denn sie erfordere zunächst die Ausschaltung der libyschen Luftabwehr und darüber hinaus eventuell den Abschuss libyscher Kampfflugzeuge.
Militärisch wären die USA hierzu auf Grund ihrer haushohen Überlegenheit zwar notfalls auch im Alleingang, ohne Beteiligung von NATO-Verbündeten, in der Lage. Doch die Bereitschaft, sich neben dem andauernden "militärischen Engagement" in Afghanistan und Irak auf einen weiteren bewaffneten Konflikt mit ungewissem Ausgang einzulassen, ist in Washington derzeit sehr beschränkt.
Skeptiker argumentieren, dass der Krieg gegen den Irak vom Frühjahr 2003 mit seinem nachfolgenden siebenjährigen Einsatz von insgesamt über 500.000 amerikanischen Besatzungssoldaten seinen Ursprung in der 1991 über Nord- und Südirak verhängten Flugverbotszone habe.
Und auch die Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina sei der Beginn eines amerikanischen Engagements gewesen, an dessen Ende die fünfjährige Stationierung von über 30.000 US-Soldaten (im Rahmen der UN-mandatierten und NATO-geführten IFOR- und SFOR-Truppen) gestanden habe.
NATO-gestütztes Flugverbot als "westliches Komplott"
Ein weiterer Grund für Zurückhaltung nicht nur in Washington, sondern auch in Berlin, Paris und anderen westlichen Hauptstädten, ist die Sorge, die Errichtung einer Flugverbotszone liefere Gaddafi Munition für seine These vom "westlichen Komplott" gegen Libyen. Zumal eine Flugverbotszone - egal ob mit oder ohne Mandat des Sicherheitsrates - operativ durchgesetzt würde von Luftstreitkräften einzelner oder sämtlicher NATO-Staaten. Dafür spricht alle bisherige Erfahrung internationaler Militäreinsätze seit Ende des Kalten Krieges.
Die These vom "westlichen Komplott" könnte sich nicht nur in Teilen der libyschen Bevölkerung verfangen, sondern auch darüber hinaus in anderen arabischen und islamischen Staaten. Hier wird eine Flugverbotszone bislang ja keineswegs einstimmig oder auch nur mehrheitlich befürwortet.
In Libyen hat sich bislang der "Nationalrat" der befreiten Städte im Osten des Landes dafür ausgesprochen. Unter den 22 Staaten der Arabischen Liga, die vergangene Woche noch mehrheitlich dagegen waren, haben inzwischen Bahrain und Oman öffentlich eine Flugverbotszone gefordert. Ebenfalls dafür plädierte der Generalsekretär der Organisation der 57 islamischen Staaten (OIC).
Alle genannten Befürworter sprachen sich zugleich aber entschieden gegen eine "militärische Intervention" aus. Hinter dieser nicht ganz widerspruchsfreien Haltung steht die Sorge, nach der Durchsetzung einer vielleicht zunächst nur mit der "humanitären Schutzveranwortung" für die libyschen Zivilisten begründeten Flugverbotszone könne es zu einer Invasion von NATO-Truppen in Libyen kommen und zu einer Besetzung der Ölfelder.
Die Sorge ist keineswegs völlig unbegründet. Denn all diese Szenarien, ebenso wie die aktive Luftunterstützung für die Oppositionskräfte etwa durch das Bombardement libyscher Panzer, werden in Planspielen der NATO-Militärs in Brüssel schon längst geprobt.
Und inzwischen haben die NATO-Staaten umfangreiche See-, Luft- und Invasionsstreitkräfte in der Nähe der libyschen Küste versammelt und wären operativ in der Lage, jedes der genannten Szenarien auch umzusetzen.
Andreas Zumach
© Deutsche Welle 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de
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