Auf der Suche nach dem vierten Weg

Revolutionsführer Gaddafi probiert derzeit den außenpolitischen Spagat: Einerseits sucht er durch Zugeständnisse um jeden Preis den Anschluss an den Westen, andererseits hält er an der Vision seiner "Vereinten Staaten von Afrika" fest.

Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi probiert derzeit den außenpolitischen Spagat: Einerseits sucht er durch umfassende Zugeständnisse um jeden Preis den Anschluss an den Westen, andererseits hält er an der Vision und Führung seiner "Vereinten Staaten von Afrika" fest.

Muammar al-Gaddafi, Foto: AP
Muammar al-Gaddafi

​​Noch bis vor wenigen Monaten hätte man die rasante Kehrtwende der libyschen Führung im Konflikt mit der westlichen Staatengemeinschaft wohl kaum für möglich gehalten: Nach jahrzehntelangem juristischen und politischen Tauziehen übernahm Libyen im vergangenen August die Verantwortung für den Anschlag auf ein amerikanisches Flugzeug über dem schottischen Lockerbie 1988. Daraufhin zahlte Libyen 2,7 Milliarden Dollar an die Familien der Opfer des Attentats.

Im Januar 2004 folgten Entschädigungszahlungen auch für die Hinterbliebenen eines Anschlags auf eine französische UTA-Maschine, bei dem 1989 rund 170 Menschen ums Leben gekommen waren.

Einlenken um jeden Preis?

Auch im dritten Fall einer libyschen Beteiligung an Terroranschlägen, dem Attentat auf die Berliner Diskothek "La Belle" im Jahr 1986, hat die Führung in Tripolis angekündigt, die Opfer des Anschlags zu entschädigen.

Doch damit nicht genug: Libyen erklärte vor kurzem das Ende seines Atomwaffenprogramms und unterzeichnete zudem das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrvertrag, das der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) künftig auch unangekündigte Kontrollen libyscher Atomanlagen erlaubt.

Und mit einem umfassenden Programm zur Vernichtung von Chemiewaffen hat das nordafrikanische Land ebenfalls begonnen, unter der Aufsicht des "Büros für das Chemiewaffenverbots" (OPCW).

Im Dezember 2003 erklärte Libyen schließlich seinen endgültigen Verzicht auf Chemiewaffen. Damit erfüllt der nordafrikanische Staat einen Großteil der Bedingungen für eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen. Gaddafi zahlt dafür allerdings einen hohen Preis. Und auch wenn er die Entschädigungszahlungen nicht als Schuldgeständnis Libyens sieht, so legen diese Kompensationen einen solchen Schluss doch recht nahe.

Mehr Pragmatismus, weniger "grünes Buch"

Es ist beachtlich, in welchem Tempo sich Gaddafis außenpolitischer Wandel vollzieht. Und es besteht kein Zweifel, dass er mit diesem Kurswechsel auch einen Schlussstrich unter seine bisherigen ideologischen und politischen Aspirationen aus der Gründerzeit des libyschen "Volksmassenstaates" zieht.

Nach dem Scheitern des panarabischen Experiments und längst verblasster Revolutionsmythen vom "dritten Weg", irgendwo zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wünscht man sich in Tripolis offenbar eine Hinwendung zu einer pragmatischeren Politik. Nach jahrzehntelangem UN-Embargo und internationaler Isolation will der Maghrebstaat nun endlich sein Image als Drehscheibe des Terrorismus sowie ewiger Schurkenstaat ablegen und sich dem Westen öffnen.

Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht. Die USA haben bereits als Reaktion auf die Beendigung des Atomwaffenprogramms und der Lockerbie-Kompensationen mit der Aufhebung der Sanktionen begonnen. So dürfen zum ersten Mal nach 23 Jahren wieder Amerikaner nach Libyen reisen. Nach jahrzehntelanger Eiszeit wollen die USA jetzt eine diplomatische Mission aufbauen.

Dies bedeutet eine Zäsur in den Beziehungen zum einstigen Erzfeind. Denn im Gegensatz zu den Vereinten Nationen hatten die USA bisher strikt an ihren Strafmaßnahmen festgehalten. Seit 1986 werden US-amerikanische Firmen daran gehindert, in Libyen zu investieren. Das soll sich nun ändern: Die Amerikaner planen, die Kontakte libyscher und amerikanischer Unternehmen auszubauen.

Neue Partnerschaft mit Europa

Und auch die Europäer haben seit Ende der UN-Sanktionen ihre Handelsbeziehungen zu Libyen weiter intensiviert – allen voran Frankreich, Italien und Großbritannien. Bei seinem "historischen Besuch" in Tripolis verkündete Englands Premier Tony Blair eine neue Partnerschaft mit Gaddafi - in wirtschaftlicher Hinsicht und bei der Zusammenarbeit im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Ein Ende der jahrzehntelangen Eiszeit zwischen Briten und Libyern scheint also in Sicht.

Und auch der italienische Ministerpräsident Berlusconi flog im Februar erneut nach Tripolis, um sich mit Gaddafi einig zu werden und über Erdöllieferungen sowie Einwanderungsfragen zu verhandeln.

Und auch die französische Regierung beeilt sich seit dem libyschen Entschädigungsangebot für die Opfer des UTA-Anschlags, mit dem nordafrikanischen Land ins Geschäft zu kommen: Chirac versicherte, Frankreich werde alles tun, um Libyens Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft zu unterstützen.

Auch dem Wunsch Gaddafis nach einem Beitritt zum EU-Assoziierungsabkommen für den Mittelmeerraum will Frankreich entsprechen. Der Revolutionsführer Gaddafi erhofft sich von dem Abkommen eine Förderung des Handels und eine Annäherung an die Europäische Union.

Muammar al-Gaddafi ist der vielen außenpolitischen Abenteuer müde geworden, so dass er nicht nur zu einem Friedensschluss mit den Amerikanern, sondern auch mit dem Erzfeind Israel bereit ist. Wie die Tageszeitung Haaretz berichtet, hätten Diplomaten beider Seiten in Wien kürzlich Gespräche aufgenommen, um einen Aufbau normaler Beziehungen einzuleiten.

Ambitionen für ein vereintes Afrika

Doch wer geglaubt hatte, Libyens Revolutionsführer füge sich nach den Zugeständnissen an den Westen in ein von den USA vorgegebenes politisches Koordinatensystem, der wurde spätestens seit dessen Besuch auf dem Gipfel der Afrikanischen Union Ende Februar in der libyschen Stadt Syrte eines besseren belehrt: In seiner Eröffnungsrede warnte Gaddafi in bekannter Manier vor den Gefahren eines neuen Kolonialismus, beschwor die Einheit und Stärke des afrikanischen Kontinents durch den Aufbau einer gemeinsamen Interventionsarmee.

Menschenrechtsverletzungen und autoritärer Staat

Doch bei seinen Plädoyers für die Rechte der afrikanischen Völker hatte Gaddafi wohl die Zustände in seinem eigenen Land übersehen: In den vergangenen Jahren wurden in Libyen bei rassistischen Übergriffen auf schwarzafrikanische Gastarbeiter Hunderte aus dem Tschad, Nigeria, Ghana und dem Sudan getötet.

Nigerianische Parlamentarier sprachen sogar von 500 ermordeten Bürgern aus dem eigenen Land. Tausende nigerianische und sudanesische Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimatländer zurückgekehrt.

Und auch in anderer Hinsicht, lässt die Situation der Menschenrechte in Libyen zu wünschen übrig. Nach Informationen von Amnesty International sind immer noch zahlreiche politische Gefangene ohne Gerichtsverfahren eingesperrt.

Es gebe Fälle, in denen Menschen jahrelang ohne Kontakt zu ihren Familien oder Anwälten festgehalten werden. Und es gebe Einrichtungen, in denen gefoltert werde. Für eine Reihe von Vergehen sei die Todesstrafe vorgesehen. Ferner kritisiert Amnesty Libyens Volksgerichte für deren unfaire Prozesse.

Trotz außenpolitischer Neuorientierung und erfolgreicher humanitärer Initiativen – wie z.B. bei der Geiselbefreiung auf Jolo oder in Afghanistan durch die Gaddafi-Stiftung – scheint ein demokratischer Aufbruch im autoritären Staat daher wohl noch in weiter Ferne.

Arian Fariborz

© Qantara.de 2004