"Rote Knospen" - eine Fernsehserie spaltet das Land
Eine TV-Serie sorgt derzeit für erhitzte Diskussionen in der Türkei. Sie heißt "Kizil Goncalar" (dt. "Rote Knospen") und startete Mitte Dezember im regierungskritischen Sender Fox TV. Der Name klingt nach einer typischen türkischen Seifenoper - doch das ist “Rote Knospen” nicht. Die TV-Serie hat politische Sprengkraft, weil sie der Gesellschaft einen Spiegel vorhält und zeigt, in welchen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen das Land steckt. Vor allem macht sie deutlich, wie tief die Türkei bereits in eine streng islamisch-religiöse und eine liberal-westliche Lebenswelt gespalten ist.
Erzählt wird die Geschichte von Meryem, die mit 13, 14 Jahren mit Naim verheiratet wurde, der dem streng islamischen Orden "Faniler" (dt. "Die Sterblichen") angehört. In diesem fiktiven Orden, im Westen würde man auch von Sekte sprechen, wird von den Mitgliedern absolute Treue erwartet - die Naim mit Hingabe liefert.
Nach dem verheerenden Erdbeben im Jahr 2023, hier wird die Serie konkret, kehren Naim, Meryem und ihre Tochter Zeynep der zerstörten südostanatolischen Heimat den Rücken und ziehen in die Metropole Istanbul. Naim dient im Ordenskloster, Meryem hilft im Umfeld der Gemeinde und die Tochter Zeynep darf nur die Koranschule besuchen, keine staatliche Regelschule.
Bald wird sie noch größere Probleme haben: Die Gemeinde will Zeynep mit einem Führer der Sekte verheiraten. Dieser ist in medizinischer Behandlung bei dem laizistischen Arzt Levent, der den westlichen Idealen von Staatsgründer Atatürk folgt. Diese zwei Welten, die kaum unterschiedlicher sein könnten, werden sehr realistisch gezeichnet und zeigen so ein Abbild des Landes.
Erfolg und heftige Kritik
Die Türkei ist seit Jahren tief gespalten. Unter der islamisch-konservativen AKP wurde die Kluft zwischen den erstarkten religiösen und den geschwächten säkularen Gruppen immer größer.
Während Liberale aus dem Staatsapparat, der Justiz, aus den Hochschulen und zum Teil aus der Privatwirtschaft verdrängt wurden, erhielten viele Orden, Bruderschaften und religiös-konservative Verbände immer mehr Privilegien und erhebliche finanzielle Unterstützung. Vor jeder Wahl wird daher die Angst geschürt, dass sie diese bei einem Regierungswechsel verlieren würden.
"Rote Knospen" führt das Publikum in das Innenleben der jeweils anderen Gruppe. Sie zwingt die Zuschauer, bewusster wahrzunehmen, in was für einem polarisierten Land sie leben und darüber nachzudenken, in welcher Türkei sie überhaupt leben wollen. Bereits mit der zweiten Folge erreichte sie fast sieben Millionen Zuschauer - eine beachtliche Quote in der Türkei mit ihren 85 Millionen Einwohnern.
Die Serie löste auch eine Welle der Kritik aus. Sowohl laizistisch-liberale als auch religiös-konservative Gruppen fühlten sich schlecht dargestellt. Am lautesten demonstrierten die islamistischen Orden und Bruderschaften. Sie mobilisierten ihre Anhänger, sodass laut Medienaufsichtsbehörde RTÜK rund 32.000 Beschwerden bei zuständigen Stellen eingingen.
Kurzerhand verhängte die Behörde harte Strafen: zwei Wochen Sendepause und rund 275.000 Euro Geldstrafe gegen den Sender Fox TV wegen des angeblichen Verstoßes gegen "nationale und moralische Werte". In den Dialogen würden negative Adjektive für als religiös gelesene Muslime verwendet und in einigen Szenen würden religiös-sensible Menschen herabwürdigt, so die Begründung der RTÜK.
Regierungspresse hetzt gegen "Rote Knospen"
Für den islamischen Theologen Ihsan Eliacik sind die harten Strafen keine Überraschung. Denn RTÜK sei seit langem auf Regierungslinie, schreite bei solchen Fällen oft mit der Begründung ein, es würden sich viele religiöse Menschen beschweren. Häufig spreche die Behörde Verbote aus, die anschließend vom Verwaltungsgericht bestätigt werden, weil auch die Gerichte mit regierungsnahen Richtern besetzt seien, so Eliacik.
Der Theologe vermutet, dass solche Fälle für die Regierung eine willkommene Gelegenheit bieten, Macht zu demonstrieren - und zu vermitteln, dass sie keine Kritik am Islam dulde. Die AKP wolle signalisieren, dass in ihrer Türkei die religiösen, bärtigen und verhüllten Menschen nicht "verachtet" werden dürfen. "Diese seien jetzt an der Macht, diese seien sogar der Staat selbst, das ist die Botschaft", sagt Eliacik.
Auch die regierungsnahe Presse macht Stimmung gegen die angeblich islamfeindliche Serie. Viele Zuschauer dagegen meinen, "Rote Knospen" zeige ein differenziertes Bild von Religiös-Konservativen und Säkular-Liberalen. Auch die Produktionsfirma betont, keine Pauschalisierung oder Verallgemeinerung zu beabsichtigen.
"Wir wollen einerseits die verheerenden Folgen des Verhaltens von Menschen zeigen, die ihre eigenen Werte missbrauchen. Andererseits wollen wir vor Augen führen, dass gutmütige, ehrliche Menschen trotz Unterschieden eine gemeinsame Sprache finden können", erklärte die Firma.
"Auch das stört die religiösen Bruderschaften", sagt Ayse Cavdar, eine Kulturanthropologin, die sich seit Jahren mit den Lebenswelten muslimischer Milieus beschäftigt. Weil das Drehbuch solche Gruppen nicht pauschal verurteilt, sondern auf Gutes und Böses bei ihnen hinweise, seien sie gekränkt. Es gebe durchaus das Gute, dennoch entscheide sich mancher aus freien Stücken für das Böse. "Das verärgert diese Milieus", so Cavdar.
Am lautesten protestierte die regierungsnahe Ismailaga-Gemeinde, die in den vergangenen Jahren oft für negative Schlagzeilen gesorgt hat - zuletzt wegen der Heirat eines sechsjährigen Mädchens mit einem religiösen Führer ihres Ordens. Der Fall löste landesweit Empörung aus. Ismailaga spricht seit Jahren eine Wahlempfehlung zugunsten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan aus.
Der Einfluss islamistischer Orden
Laut Untersuchungen haben vier bis sechs Prozent der türkischen Bevölkerung eine Verbindung zu solchen islamistischen Orden und Bruderschaften. "Aber der Einfluss dieser Orden ist weit größer als ihre Mitgliederzahl vermuten lässt", betont die Expertin Cavdar. Dies liege daran, dass sie gut organisiert seien und enge und pragmatische Beziehungen zur Bürokratie und Politik pflegten - und das seit mehr als 200 Jahren.
Cavdar zufolge übernehmen Bruderschaften wie die Naksibendi, zu der auch die Ismailaga-Gemeinde gehört, bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert wichtige Aufgaben im Staatsapparat. Auch in Politik und Bürokratie habe die Zusammenarbeit eine lange Tradition, weil einige im Staat glaubten, dass solche Gruppen "nützlich" sein könnten.
Die Wissenschaftlerin erklärt, dass diese Gruppen Macht nicht aus der Unterstützung durch die Bevölkerung gewinnen, sondern vielmehr aus ihren Beziehungen im Staatsapparat. "Welchen Schaden solche Verhältnisse dem Land zufügen können, haben wir in jüngster Vergangenheit wieder gesehen", fügt sie hinzu.
Gemeint ist der Putschversuch vom 2016, bei dem es um einen Machtkampf zwischen der Regierungspartei AKP und der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen ging. Auch die Gülen-Bewegung hat jahrelang die AKP unterstützt und dabei den Staat unterwandert. Seit ihrer Vertreibung haben andere Bruderschaften ihren Platz übernommen, wie Medienberichte darlegen. In Ministerien, Justiz, Gesundheit, Schulwesen und Polizei seien diese Bruderschaften inzwischen sehr mächtig.
Diese privilegierte Welt darf auch keine fiktive TV-Serie stören. Ihre Vertreter wollten mit aller Kraft verhindern, dass ihre Klientel kritische Serien wie "Rote Knospen" sehen könnte, meint die Expertin. Denn wenn die Vertreter religiös-konservativer Milieus plötzlich anfingen, über sich und ihr Leben nachzudenken, "könnten sie begreifen, dass ihre Träume nie wahr werden", so Cavdar. "Die kritischen Stimmen sollen verstummen, damit die inneren Zirkel in Schach gehalten werden können."
Mitarbeit: Pelin Ünker
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