Abseits des Pathos
Die wieder entdeckte und neu herausgebrachte Orient-Bildersammlung des Berliner Fotografen Hermann Burchardt von vor über 100 Jahren wirkt entwaffnend uninszeniert und ist frei von peinlichem Voyeurismus mancher seiner Zeitgenossen. Andreas Pflitsch stellt den Band vor.
Annähernd 2000 Foto-Negative, Glas- und Zelluloidplatten, die das Berliner Völkerkundemuseum 1911 aus dem Nachlass Hermann Burchardts erhalten hatte, schliefen dort, in Kartons gelagert und vergessen, einen fast das gesamte 20. Jahrhundert überdauernden Dornröschenschlaf, bevor sich Annegret Nippa in den 1990er Jahren an die detektivische Arbeit einer systematischen Bearbeitung machte.
Zunächst galt es, das Material des Reisenden, der nicht nur den arabischen Nahen Osten und Nordafrika, sondern auch die Türkei und Persien fotografiert hatte, geographisch zuzuordnen.
Burchardt, 1857 in Berlin geboren, hatte nach dem Tod des Vaters - dank eines beträchtlichen Erbes - den ungeliebten Beruf des Kaufmanns aufgegeben und sich fortan als Privatier seinem "diffusen Fernweh nach Irgendwo" widmen können.
Von der libyschen Wüste bis nach Dubai und Oman
Eine erste Reise führte ihn 1893 in die Oase Siwa, in der libyschen Wüste. Später ließ er sich für einige Jahre in Damaskus nieder, von wo aus er seine Reisen in der Region unternahm, bevor er 1909 im Jemen aufgrund einer tragischen Verwechslung einem Mordanschlag zum Opfer fiel.
Inzwischen konnte der allergrößte Teil des fotografischen Nachlasses Burchardts lokalisiert und datiert werden. Einen kleinen,aber feinen Ausschnitt stellt nun der mustergültig edierte und kommentierte, durchgängig deutsch-englische Band über eine Reise vor, die Burchhardt zwischen Dezember 1903 und März 1904 von Basra über Kuweit, Bahrain, Katar, Abu Dhabi und Dubai nach Oman führte.
Knapp einhundert Fotografien, Landschaftsaufnahmen, Hafen- und Marktszenen sowie Porträts, sämtlich sorgfältig anhand von Tagebuchaufzeichnungen des Fotografen und mit hilfreichen Exkursen in Wirtschaftsgeschichte und Alltagskultur erläutert, werden durch eine ausführliche Einleitung und den Abdruck eines Vortrages, den Burchardt im Februar 1906 auf der "Allgemeinen Sitzung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin" gehalten hatte, eingerahmt.
In der Einleitung wird die schwierige Quellenlage erläutert. Zudem wird darin für eine "visuell begründete Ethnografie" plädiert, die Erkenntnisse bereit halte, "die in mündlichen Überlieferungen vergessen sind und in schriftlichen nicht erwähnt werden".
Kommunikation zwischen Gegenwärtigem und Fernem
"Fotografien dienen nicht der einsamen Erinnerung an Vergangenes, sondern sind Medien einer andauernden Kommunikation zwischen dem Gegenwärtigen und Fernen." Gelegentlich driften die Autoren ab und versuchen sich, etwa wenn von "Rechtschaffenheit als Gestus in den Traditionen des Sachlichen" die Rede ist, an intellektuellen Klimmzügen.
Der hier in den Text hineinschwappende Jargon bleibt aber glücklicherweise die Ausnahme, und der weitaus größte Teil der Einleitung beleuchtet die politische Situation am Golf um die Jahrhundertwende, die Rolle der Briten in der Region und die kulturgeschichtlichen Dimensionen des in jener Zeit aufkommenden Tourismus.
Ein erhellender Seitenblick auf die Geschichte der Fotografie im Nahen Osten beleuchtet das häufig missverstandene islamische Bilderverbot. Schon früh hat sich in theologischen Kreisen die Auffassung durchgesetzt, dass es sich bei der Fotografie nicht um eine verwerfliche Imitation der göttlichen Schöpfung handele, sondern um eine Abstraktion, die, ähnlich dem Spiegelbild, religiös unbedenklich sei.
Frei von zeittypischen Orientfantasien
Zu Recht kritisieren die Autoren den reflexartigen Orientalismusverdacht, der heute ausnahmslos jeden treffe, der sich in Zeiten von Kolonialismus und Imperialismus über den Orient geäußert habe. Burchardt sei, betonen sie nachdrücklich, in seiner Arbeit von den zeittypischen Orientfantasien frei gewesen.
Und tatsächlich wirken die Bilder dieses Bandes entwaffnend uninszeniert und sind nie von dem peinlichen Voyeurismus mancher seiner Zeitgenossen bestimmt – was aber andererseits auch bedeutet, dass sich erst bei genauem Hinsehen und geduldigem Betrachten ihre Reize offenbaren.
Exotistische Knalleffekte und Ikonen des Fremden sucht man vergebens. Stattdessen bekommt es der Betrachter mit pathosfernen, "leisen" Bildern zu tun, die erst allmählich ihren Reiz entfalten, dann aber die Weite und Stille der abgebildeten Landschaften spürbar werden lassen.
Drei Bilder eines Tales in der Umgebung von Maskat, aufgenommen aus unterschiedlichen Perspektiven, miteinander verbunden durch einen auf allen drei zu sehenden Wehr- und Wasserturm, erwecken nach einer gewissen Zeit in ihrer beiläufigen Alltäglichkeit den Eindruck, man kenne sich in der Gegend aus. Steine, Äste und Geröll scheinen zum Greifen nahe. Hier wird nicht über Fremdes belehrt, hier wird Vertrautes gezeigt.
Lebendige Einblicke in eine längst untergegangene Welt
Kommt der nüchterne Charakter Burchardts seiner fotografischen Arbeit offensichtlich zugute, so steht er seinen schriftstellerischen Fähigkeiten im Wege: Sein in dem Band abgedruckter Vortrag nimmt sich vergleichsweise langweilig aus. An die Atmosphäre, die seine Fotografien ausstrahlen, reicht des Autors ungelenke Prosa in keiner Weise heran.
Burchardt, so loben die Autoren in ihrer Einleitung, "zeigte die Bildwürdigkeit im Leben von Tag zu Tag und fotografierte nicht die Ausnahme, sondern die Regel, nicht die Ereignisse, sondern die Gewohnheit, nicht die Höhepunkte, sondern das Gleichmaß." Die Bilder erlauben verblüffend frische Einblicke in eine seit langem untergegangene Welt. Das ist, im eigentlichen Wortsinn, wunderbar.
Andreas Pflitsch
© Qantara.de 2006
Annegret Nippa, Peter Herbstreuth: Unterwegs am Golf von Basra nach Maskat. Photographien von Hermann Burchardt, Berlin: Verlag Hans Schiler, 2006, 232 Seiten
Qantara.de
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