„Wie ein Stück Eisen zwischen zwei Magneten“

Jan Dost signiert sein Buch, eine Frau mit Hijab steht vor ihm.
Jan Dost bei der Vorstellung seines Buches "Safe Corridor" im Februar 2025. (Foto: Promo | Dar Mayara)

Mit „Safe Corridor“ wird der erste Roman von Jan Dost ins Englische übersetzt. Der erfolgreiche syrische Schriftsteller sprach mit Qantara über Auswirkungen des Krieges auf Kinder und über den fundamentalen Unterschied zwischen dem Schreiben auf Kurdisch und Arabisch.

Von Marcia Lynx Qualey

Kamiran, ein dreizehnjähriger Junge, erzählt in Jan Dosts Roman „Safe Corridor“ (Sicherer Korridor)In seinem Verhalten schwankt er zwischen einem erwachsenen Mann und einem hilflosen Kind. Der kurdische Teenager hat noch immer Schwierigkeiten, seine Blase zu kontrollieren und stiehlt die Windeln seiner Schwester, um es zu verbergen. 2018 ziehen er und seine Familie im Norden Syriens von Stadt zu Stadt, auf der Suche nach einem „sicheren Korridor“, um vor den Kämpfen zu fliehen.

Gleichzeitig reift Kamiran in einem unnatürlichen Tempo, so dass ein Junge, der sich nachts einnässt, tagsüber eine sexuelle Beziehung mit einer verwitweten Nachbarin eingeht. Während der Reise wird Kamirans Haut kreidig und hart, als würde er um Jahre altern. In dieser Coming-of-Age-Geschichte bringt der Krieg die biologische Uhr eines Jungen aus dem Takt: Die Zeit scheint gleichzeitig vorwärts und rückwärts zu laufen.

Jan Dost wearing glasses and a bowtie, smiling at someone.
Autor

Jan Dost ist ein syrisch-kurdischer Schriftsteller, geboren in Kobani, Syrien. Er hat als Journalist, Übersetzer und Redakteur gearbeitet. Er hat mehrere Bücher ins Arabische und Kurdische übersetzt. Er schreibt seit seiner Kindheit Gedichte und hat Gedichtbände und Romane veröffentlicht, von denen einige auch auf Farsi, Italienisch, Spanisch und Türkisch vorliegen. Im Jahr 2000 wanderte er nach Deutschland aus und nahm später die deutsche Staatsbürgerschaft an.

„Kriege schärfen unser Bewusstsein für Tragödien“, schreibt Dost in einem E-Mail-Austausch. „Und Kinder werden aufgrund ihrer extremen Sensibilität in Kriegen schnell erwachsen. Sie sind immer noch Kinder, aber ihr Bewusstsein ist ihrem Alter voraus“.

In den letzten zehn Jahren hat sich Dosts literarisches Werk durch den Krieg verändert. „Safe Corridor“ ist einer von fünf neueren Romanen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Nordsyrien und im Südosten der Türkei stehen. Mehrere dieser Bücher, sagt er, basieren auf den Erfahrungen seiner eigenen Familie. 

Schreiben auf Arabisch, Schreiben auf Kurdisch

Dost wurde in Kobanê (auf Arabisch Ain al-Arab), einer Stadt in Nordsyrien, geboren und wuchs in einer mehrsprachigen kurdischen Familie auf, die eine ausgeprägten Liebe zu Büchern pflegte. Sein älterer Bruder studierte arabische Literatur und schrieb Gedichte, während sein jüngerer Bruder, der ebenfalls Gedichte schrieb, englische Literatur studierte. Seine Mutter kannte klassische kurdische Gedichte auswendig „und hat sie mir immer vorgetragen“, erzählt er.

Im Laufe seiner Karriere hat Dost sowohl auf Arabisch als auch auf Kurdisch geschrieben. Sein erstes arabisches Gedicht schrieb er mit zehn Jahren, und seine erste „Veröffentlichung“ erfolgte mit vierzehn, als er mehrere humoristische Gedichte an eine Literatursendung des Damaszener Radios schickte – unter Pseudonym.

Im darauffolgenden Jahr begann er, auf Kurdisch zu schreiben, wobei sich seine Beziehung zum Kurdischen von der zum Arabischen unterscheidet. „Die Behörden bekämpften die kurdische Sprache, belagerten sie und ließen sie nicht gedeihen“, sagte er. „Wir haben viel gekämpft und waren vielen Schikanen und Buchbeschlagnahmungen ausgesetzt, aber wir haben trotzdem darauf bestanden, auf Kurdisch zu schreiben.“ 

„Wir haben Romane und Gedichtbände in unserer Muttersprache geschrieben, ohne sie jemals in der Schule oder an der Universität gelernt zu haben“, so Dost. „Das nenne ich Schattenliteratur.“ Doch trotz seiner Hingabe für die kurdische Sprache schreibt Dost auch weiterhin auf Arabisch. „Zwischen diesen beiden Sprachen fühle ich mich​​ wie ein Stück Eisen, das zwischen zwei Magneten gebannt ist“, sagt er. „Beide haben eine enorme Anziehungskraft.“

Den Krieg in Worte fassen

Dost zog im Jahr 2000 nach Deutschland und veröffentlichte vier Jahre später seinen ersten Roman, „Mijabad“. Dieses Buch, das in der kurzlebigen Republik Kurdistan (Januar bis Dezember 1946) spielt, schrieb er auf Kurdisch. Seitdem schrieb er mehr als ein Dutzend Romane, sowohl auf Arabisch als auch auf Kurdisch. Seit 2012 trägt er zusammen mit anderen syrischen Schriftsteller:innen – Samar Yazbek, Dima Wannous, Khaled Khalifah und anderen – zu einer dringend benötigten Literatur über den syrischen Krieg bei.

2013 veröffentlichte Dost seinen ersten Roman über den Bürgerkrieg: „Blut auf dem Minarett“. Und als die Situation immer schlimmer wurde – die Kräfte des „Islamischen Staats“ übernahmen Dosts Heimatstadt – schrieb er „Kobanê“das 2017 auf Kurdisch und 2018 auf Arabisch erschien. 

Sein arabischer Roman „Sie warten auf die Morgendämmerung“ (2022) spielt im Kontext der Zerstörung kurdischer Städte in der Türkei im Jahr 2015. Nicht zuletzt schildern die Zwillingsromane „Ein grüner Bus verlässt Aleppo“ und „Sicherer Korridor“, beide 2019 auf Arabisch erschienen, die Ereignisse in Nordsyrien. 

„Ein grüner Bus verlässt Aleppo“ ist eine Vorgeschichte zu seinem preisgekrönten Roman „Sicherer Korridor“, der jetzt ins Englische übersetzt wirdIm Mittelpunkt des ersten Romans steht ein älterer Mann, der allein zurückbleibt, nachdem seine Familie durch den Krieg auseinandergerissen wurde. „Der Roman endete“, sagte Dost über die Vorgeschichte, doch „seine Handlung entwickelte sich vor Ort weiter, als die kurdische Stadt Afrin von arabischen Gruppierungen angegriffen wurde, die mit der Türkei verbündet sind. Es war eine große Tragödie. Die Bevölkerung wurde vertrieben, es gab einen großen Exodus, Morde und Zerstörung.“

Zum Zeitpunkt des Angriffs auf Afrin, so Dost, befanden sich viele der Personen, die in „Ein grüner Bus verlässt Aleppo“ vorkommen, noch in der Stadt. „Also beschloss ich, den Roman fortzusetzen und mehr über diese syrische Familie zu erzählen, die auch Teil meiner echten Familie ist. So entstand der Roman ‚Sicherer Korridor‘“.

Zu Beginn und am Ende des Romans regnet es in Strömen und Kamirans wackliges Zelt droht weggespült zu werden. Diese Verwundbarkeit zieht sich durch den Roman. Kamiran versucht, sich auf unvorhersehbarem Terrain zurechtzufinden, und äußere Kräfte drohen, alles um ihn herum mitzureißen.

Mit den Augen eines Kindes

Wenn man mit den Augen eines jungen Teenagers auf die Ereignisse zwischen 2017 und 2018 blickt, tritt alles deutlicher hervor. Ereignisse, an die ein Erwachsener vielleicht gewöhnt ist oder die er zu ignorieren versucht, sieht Kamiran mit frischer und verwundeter Klarheit.

Als ein „Parteibonze“ in das Flüchtlingslager kommt, in dem seine Familie untergebracht ist, interessiert sich Kamiran ebenso sehr für dessen „dicken Schnurrbart und seine gelähmte Hand“ wie für die Politik des Mannes. Als die Leute „große Parolen skandieren und applaudieren“, wendet sich Kamiran an seinen Onkel. Dieser kommentiert verzweifelt: „Das größte Unglück ist, wenn du keine Ahnung hast, wie riesig dein Unglück eigentlich ist.“

Für Dost war es nicht einfach, diesen Roman aus der Sicht eines Kindes zu schreiben. „Es war eine schwierige Entscheidung, den Erzähler zu einem kleinen Jungen zu machen. Er verflucht den Krieg mit unflätigen Worten und drückt seinen Hass gegen das Kämpfen in einer kindlichen Sprache aus, in der die Wut der Unschuldigen hörbar ist. Ich musste in seine Persönlichkeit schlüpfen, seine Sprache, seine Flüche.“

Kamirans Naivität erlaubt es ihm, Dinge wie Parteipolitik und die Bedeutung eines „sicheren Korridors“ zu hinterfragen. Das bedeutet auch, dass er sich auf Dinge konzentrieren kann, über die ein Erwachsener vielleicht hinwegsehen würde: zum Beispiel die Haufen menschlicher Exkremente entlang der Evakuierungsroute der flüchtenden Menschen.

Endlich auch internationale Anerkennung

Bislang wurde Dosts kraftvollen Romanen international wenig Aufmerksamkeit geschenkt. „Sicherer Korridor“ wurde 2024 in der Übersetzung von Marilyn Booth mit dem erstmals verliehenen Bait Ghasham Dar Arab Prize ausgezeichnet, und wird so nun auf Englisch veröffentlicht. 

Die Übersetzung wurde im Rahmen eines zweitägigen Symposiums im Februar vorgestellt, auf dem die Preisträger:innen des Jahres 2025 gefeiert wurde. Es ist ein Zeichen für seine zunehmende Anerkennung, dass mit „Der französische Gefangene“ ein anderer seiner Romane 2025 auf der Longlist für den International Prize for Arabic Fiction steht. 

„Auszeichnungen spielen für das Bekanntwerden eines Romans eine große Rolle“, so Dost. „Ich hoffe, ich gewinne mindestens einen prestigeträchtigen Preis, damit meine Romane den ihnen gebührenden Platz einnehmen können.“ Ohne den Stempel eines Preises, so fügte er hinzu, „geht gute Belletristik in dem verloren, was man das Verlagschaos nennen könnte.“

Der Krieg habe seine Beziehung zum Kurdischen aber verändert, sagt er, denn er sei „wütend auf meine Sprache und auf die Kurden geworden, die 2013 das Massaker in Amuda verübten“. So oder so schreibt Dost weiterhin fieberhaft – auf Kurdisch und Arabisch. 

Anfang Februar hat er die kurdische Fassung seines neuesten Romans „Der General in seiner letzten Schlacht“ an seinen Verleger in Istanbul geschickt, im Herbst soll er erscheinen. „Die arabische Übersetzung, die ich selbst angefertigt habe, wird von Dar Annahar im Libanon veröffentlicht werden.“ Der Roman greift einige der Themen seines Debüts auf, er zeichnet das Leben des kurdischen Generals Mulla Mustafa Barzani (1903–1979) nach, und wird im Frühjahr 2026 auf Arabisch erhältlich sein.

 

Auf Englisch:
Safe Corridor
Jan Dost (trans. Marilyn Booth)
DarArab, 2025 (forthcoming)

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des englischen Originals. Übersetzung von Ronja Grebe.

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