„Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie“

Ein Mann mit Gewehr beugt sich zum offenen Fenster eines roten Autos.
Die Gewalt an der syrischen Küste hat breite internationale Besorgnis hervorgerufen. Hier: Straßenkontrolle durch Sicherheitskräfte in Latakia nach dem Massaker (Foto: picture alliance/AP Photo | G. Alsayed)

Überlebende der Anfang März in syrischen Küstenstädten entfesselten Gewalt erzählen Qantara ihre Geschichte. Warnung: Die Berichte enthalten Details über die wahllosen Tötung von alawitischen Zivilist:innen und können verstörend sein.

Von Mayar Mohanna

Die syrische Küste, wo die Mehrheit der alawitischen Bevölkerung Syriens lebt, verwandelte sich Anfang März für drei Tage in ein Schlachtfeld. Es war der schlimmste Ausbruch konfessionsbasierter Gewalt seit dem Sturz des Assad-Regimes. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, einer in Großbritannien ansässigen Organisation zur Überwachung des Syrienkonflikts, wurden etwa 1.639 alawitische Zivilist:innen getötet. Die syrischen Behörden gaben bisher keine offizielle Zahl der Todesopfer bekannt.

Vorausgegangen waren Angriffe von Kämpfern des gestürzten Assad-Regimes auf Sicherheitskräfte der neuen Regierung, bei denen Dutzende von Sicherheitskräften ums Leben kamen. Daraufhin schickte die Regierung Verstärkung in das Gebiet, darunter auch dschihadistische Gruppen. 

Die Situation geriet außer Kontrolle und führte zu einem Massenmord an alawitischen Zivilisten. Begleitet wurden die Ereignisse von Fehlinformationen, Verzerrungen und hetzerischen Äußerungen auf Social-Media Plattformen. Die Debatte darüber, was zu den Massakern führte, ist angesichts der gegenseitigen Anschuldigungen und Schuldzuweisungen noch immer unklar.

Qantara hat mit vier Überlebenden aus verschiedenen Gegenden der syrischen Küstenregion gesprochen. Auf die Frage, „Was ist passiert?“ sprudelten die Worte nur so aus ihnen heraus. Einige Namen wurden geändert, um die persönliche Sicherheit zu gewährleisten. 

„Wir haben stundenlang über ihren Leichen geweint“

Mein Name ist Lin (Name geändert), ich bin 21 Jahre alt. Meine Mutter starb, als ich noch klein war. Deswegen wuchs ich bei meiner Großmutter mütterlicherseits im Viertel Al-Mrouj in der Stadt Baniyas in der Küstenregion Tartus auf, wir wohnten mit der Familie meines Onkels in einem Haus. Meine Großmutter und ich im ersten Stock und die vierköpfige Familie meines Onkels, ein Bruder meiner Mutter, im zweiten. Im Viertel wohnen hauptsächlich Alawit:innen und ein paar Sunnit:innen, die aus Aleppo zugezogen sind. Wir haben eine gute Beziehung zu ihnen.

Donnerstagabend, am 6. März, dem ersten Tag des Massakers, hörten wir, dass in unserer Stadt Razzien durch die Sicherheitskräfte durchgeführt werden sollten. Es ginge darum, Waffen sicherzustellen und nach Überresten des Regimes zu suchen, die zur Fahndung ausgeschrieben sind. Wir versammelten uns in der Wohnung meiner Großmutter, mit Ausnahme meines Onkels. Er blieb im zweiten Stock, um den Sicherheitskräften für die Durchsuchung die Tür zu öffnen.

Wir machten das Licht aus und die Fenster zu und beobachteten still und verängstigt jede verdächtige Bewegung auf der Straße vor unserem Haus. Mit der Morgendämmerung verbreitete sich die Nachricht, dass eine Militärkolonne in der Stadt angekommen sei. Schon kurz darauf drangen maskierte Bewaffnete in unser Haus ein, sie sprachen im syrischen Dialekt und beschimpften uns aufgrund unserer Konfession. 

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Sie zwangen uns auf die Knie, meine Tante aber konnte wegen ihres Gesundheitszustands nicht. Die Kämpfer beleidigten sie und drohten ihr, sie zu töten. Als mein Onkel versuchte, ihr zu helfen, befahlen sie ihm, seine Wohnung zur Inspektion aufzumachen und nach einigen Momenten hörten wir ein Maschinengewehr. Er wurde getötet, obwohl er keine Verbindungen zur militärischen Organisation des alten Regimes hatte und Bauingenieur war.

Die Bewaffneten kehrten in unsere Wohnung zurück und töteten meine beiden Cousins, Jugendliche im Alter von 17 und 18 Jahren, dann gingen sie. Wir haben stundenlang über ihren Leichen geweint, der Leichnam meines Onkels lag im Obergeschoss. Dann trat eine weitere bewaffnete Gruppe ein, diesmal unmaskiert. Sie sprachen Hocharabisch und schienen keine Araber zu sein. Sie stahlen unser Geld und alles, was sie tragen konnten und als meine Tante sie als Terroristen beschimpfte, sagten sie nur sie töteten „keine Frauen” und verschwanden.

Nach einer Stunde wurde an die Tür gehämmert. Meine Tante und ich versteckten uns schnell zwischen alten Kartons. Meine Großmutter weigerte sich, sich zu verstecken, obwohl wir eindringlich auf sie einredeten. 

Sie ging zur Tür und öffnete, da schossen Männer auf sie und durchsuchten die Wohnung, aber sie kamen nicht in das Zimmer, in dem wir uns versteckten. Ich hörte einen von ihnen im syrischen Dialekt sagen: „Die sind alle verreckt“. Trotz meines Entsetzens zwang ich mich, nicht zu weinen, und beschwor meine Tante, still zu sein. Sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Etwa eine Stunde später kamen unsere aus Aleppo stammenden Nachbar:innen und versteckten uns bei ihnen zu Hause. Das Massaker ist jetzt schon einige Tage her und wir verstecken uns immer noch bei ihnen. Alle meine Nachbar:innen, Freund:innen und ihre Familien sind getötet worden und mir bleibt niemand außer meinem Onkel in Deutschland. Er versucht mir dabei zu helfen, das Land zu verlassen.

„Wir fanden meinen Vater in einer Blutlache“

Ich heiße Lara (Name geändert), ich bin die älteste Tochter in unserer Familie, 22 Jahre alt. Ich wohne mit meinen Eltern und Geschwistern im al-Quṣur-Viertel in Baniyas. Es ist das Viertel, in dem das Massaker am blutigsten war. Am ersten Tag waren überall Schüsse und Explosionen zu hören, deswegen blieben wir verängstigt zu Hause. 

Die Telefonleitungen und das Internet waren gekappt, also wussten wir nicht, was draußen vor sich ging. Aber durch das Fenster sahen wir bewaffnete Männer durch das Viertel ziehen und wir hörten Schüsse in dem Haus, in dem wir wohnen. 

Wir waren uns sicher, dass sie uns nichts tun würden, weil unsere Familie keinerlei Verbindungen zu Militärorganisationen hatte. Aber am gleichen Abend wurde über die Lautsprecher der Moscheen ein Generalalarm ausgelöst und zum „Dschihad gegen die Alawit:innen“ aufgerufen. Im Viertel waren laute „Allahu akbar“-Rufe zu hören und Schmähungen unserer Konfession.

In der Morgendämmerung am Freitag, den 7. März, verschafften sich Bewaffnete gewaltsam Zutritt zum Haus unserer Nachbar:innen, sie schossen auf das Türschloss. Es waren laute Schreie und Wehklagen zu hören und wir wussten, dass jemand getötet worden war. Ich bebte vor Angst, ich habe noch nie in meinem Leben solche Panik gehabt. Ihre Stimmen ließen mich erschaudern, doch mein Vater blieb ruhig und das beruhigte auch mich ein wenig.

Kurz darauf hämmerten sie gewaltsam gegen unsere Tür. Mein Vater bedeutete uns, ruhig zu bleiben und sagte: „Sie werden die Wohnung durchsuchen und keine Waffen finden und dann werden sie gehen.“ Er öffnete ihnen die Tür mit einem Lächeln, als hätte er keine Angst, aber einer von ihnen bedrängte ihn sofort mit der Frage: „Bist du Sunnit oder Alawit?“ Mein Vater antwortete: „Alawit“. Der Bewaffnete beschimpfte ihn und verlangte seinen Ausweis, dann hielt er ihm seine Waffe an den Kopf und führte ihn nach draußen. 

Wir haben stundenlang auf ihn gewartet. Irgendwann ertrugen wir es nicht mehr, untätig zu bleiben. Also ging ich mit meiner Mutter hinunter, um ihn zu suchen. Als wir im zweiten Stock ankamen, fanden wir ihn in einer Blutlache auf der Treppe. Sie hatten ihm in den Kopf, die Brust und das Handgelenk geschossen. 

Während wir über seinem Leichnam klagten, tauchte eine weitere Gruppe Bewaffneter auf und drohte, uns zu töten, wenn wir nicht in unsere Wohnung zurückkehrten. Meine Mutter und ich trugen den Leichnam hinein und wir blieben den ganzen Tag an seiner Seite. Und komischerweise, trotz des Grauens, fühlte ich mich sicher, als ich neben meinem toten Vater schlief.

„Wir blieben zwei Tage ohne Essen oder Wasser“

Mein Name ist Mohamed, ich bin 35 und arbeite als Holzfäller. Es kamen Fahrzeuge mit Lautsprechern in unser Dorf Al-Mukhtariya im ländlichen Latakia, und sie skandierten islamistische dschihadistische Parolen. 

Dutzende Bewaffneten fuhren auf ihnen, einige von ihnen hatten lange Bärte und Haare, andere waren maskiert. Sobald sie anhielten, feuerten sie wahllos im ganzen Dorf herum, bevor sie in die Häuser eindrangen und die wehrlosen Bewohner:innen ohne jeden Widerstand umbrachten. Es gab kein einziges Gefecht, nur die Schüsse der Angreifer und die Schreie, die aus jedem Haus drangen. 

Ich war zu Hause, wo ich mit meiner achtzigjährigen Mutter und meinen Schwestern lebe. Als der Angriff losging, hatten wir keine andere Wahl als in die nahen Wälder zu fliehen. Nach und nach kamen noch mehr Familien, die meisten von ihnen Frauen und panische Kinder, kaum in der Lage, ihren Atem zu beruhigen. Wir erfuhren, dass Hunderte von Menschen aus unserem Dorf, darunter unsere Verwandten und Nachbar:innen, dem Massaker zum Opfer gefallen waren und dass einige Familien völlig ausgelöscht wurden.

Zwei Tage blieben wir dort, ohne Essen oder Wasser und ohne die Möglichkeit mit der Außenwelt zu kommunizieren. Nicht nur wegen der wilden Tiere, war es gefährlich, schon bald folgten uns die Bewaffneten und schossen wahllos in unsere Richtung, sodass noch mehr Menschen zu Opfern wurden. 

„Auf mir lastet die Schuld des Überlebenden“

Mein Name ist Nabil (Name geändert), ich bin 45 Jahre alt. Ich bin der einzige Überlebende meiner Familie, die beim Massaker im Dorf Al-Sanobar in der Nähe der Stadt Dschabla im Gouvernement Latakia umgekommen ist. Die Bewaffneten sind von drei Seiten in Al-Sanobar eingedrungen. Auf der vierten Seite liegt das Meer, der einzige Ausweg. Als der Angriff losging, hatten meine Familie und ich keine Zeit über irgendetwas nachzudenken, außer wie wir uns retten könnten. 

Wir beschlossen, in Richtung eines heiligen Schreins zu fliehen. Ich dachte, ich könnte dahinter Schutz finden. Meine Familie und ich rannten los, aber auf halbem Weg stießen wir auf die Kämpfer, die nur auf uns gewartet hatten. Sie schossen auf uns. Mein Vater stürzte zuerst, dann mein Bruder, dann mein anderer Bruder, dann sein Sohn, meine Frau folgte ihm, dann mein Sohn.

Ich konnte niemanden retten, es gab keine Zeit zu trauern, sie sind alle innerhalb weniger Augenblicke gestorben. Ich rannte weiter bis zum Wasserbecken beim Schrein, ich sprang hinein und tauchte alle paar Minuten auf, um Luft zu holen. Stundenlang blieb ich dort. 

Als es ruhiger wurde, kehrte ich an den Ort zurück, an dem sie meine Familie umgebracht haben. Sie lagen auf dem Boden wie hingeworfen, einer neben dem anderen. Ich hatte nichts machen können. Ich fühlte mich hilflos und wie ein Versager. So werde ich mich mein Leben lang fühlen, auf mir lastet die Schuld des Überlebenden.

 

Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Übersetzung von Leonie Nückell.

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