Antisemitismus unterschiedlichster Prägung
Nach einer Studie des Wiener EU-Zentrums zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) haben 2002 und 2003 antisemitische Vorfälle in Deutschland, Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien zugenommen. Über die Ergebnisse und Empfehlungen der neuen Studie hat sich Igal Avidan mit EUMC-Direktorin Beate Winkler unterhalten.
Im April 2002, kurz nach der israelischen Militäroperation im Flüchtlingslager Jenin, verzeichnete das EUMC eine starke Zunahme antisemitischer Gewalttaten in Frankreich und beschloss, seine Koordinationsbüros in den damals 15 EU-Staaten Daten darüber zu sammeln. Ende März erschien schließlich die neue Studie, die umfassendste bisher, die den Stand des Judenhasses in den EU-Staaten in den Jahren 2002 und 2003 systematisch und nach einheitlichen Kriterien erfasst. Die EU-Behörde schlägt darin politische Vorgehensweisen vor und fasst Reaktionen von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zusammen. Igal Avidan sprach mit Beate Winkler, der Direktorin des EUMC, am Rande der OSZE-Konferenz in Berlin über Antisemitismus, auf der sie die neue Studie vorgestellt hatte.
Ihre Studie verzeichnet einen zunehmenden Antisemitismus in den 15 EU-Staaten vor der Erweiterung der Union.
Beate Winkler: Die Zahl der antisemitische Vorfälle hat in fünf Ländern zugenommen – Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien. In vier Ländern stellten wir einen beunruhigenden antisemitischen Diskurs fest, aber keine Gewalttaten – so in Österreich, Italien, Spanien und Griechenland. In Dänemark und Schweden ist das Ausmaß antisemitischer Straftaten in den vergangenen Jahren konstant geblieben. In vier Ländern verzeichneten wir keine nennenswerte antisemitische Gewalt oder Rhetorik gegen Juden – so in Irland, Finnland, Portugal und Luxemburg. Darüber hinaus stellten wir fest, dass die Systeme für Datenerfassung in vielen Ländern sehr unzureichend sind. Diese Daten sind notwendig, um mit politischen Maßnahmen dem entgegen zu treten.
Wer sind die antisemitischen Täter?
Winkler: Es sind sowohl junge weiße Rechtsradikale als auch zunehmend junge arabische Muslime in Ländern wie Frankreich und Belgien.
Wo mischt sich Antisemitismus mit der Kritik an der israelischen Regierung?
Winkler: Kritik an der israelischen Politik ist nicht per se antisemitisch, kann es aber sein, wenn zum Beispiel das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird, wenn Sharon mit Hitler gleichgesetzt wird oder wenn Verschwörungstheorien über die Terroranschläge vom 11. September auftauchen, wonach ‚die Juden’ daran beteiligt gewesen wären. Hier wurden unglaubliche Vorstellungen verbreitet. Gleichzeitig lassen sich viele Übergriffe auf Muslime feststellen.
Und wer sind in diesem Fall die Täter?
Winkler: Sie kommen nicht nur von rechts. Das Täterprofil ist sehr breit.
Welche Rolle spielen manche arabischen Medien – insbesondere TV-Sender sowie bestimmte Prediger in Moscheen – bei diesem aufkommenden Antisemitismus? Ist die Entwicklung nicht auch auf die emotionalisierende Darstellung der Gewalt im Nahen Osten durch arabische Medien sowie auf die Hetzen mancher Prediger gegen Israelis und Juden zurückzuführen?
Winkler: Die arabischen Medien sind zweifellos ein großes Thema, der Antisemitismus mancher Prediger ebenfalls, wobei man hier nicht verallgemeinern darf. Deswegen muss man alles tun, um einen interreligiösen Dialog zu stärken. Man muss Polarisierungen vermeiden und Menschen in ihren Ängsten ernst nehmen, aber gleichzeitig gegen Fundamentalisten klar mit rechtlichen Mitteln vorgehen und die liberalen Moslems stärken.
Was können Sie gegen solche Fernsehsender und Prediger unternehmen?
Winkler: Das können höchstens Außenpolitiker, wir machen keine Außenpolitik. Wir haben ein sehr begrenztes Mandat. Außerdem sind wir eine sehr kleine Einrichtung, die erst vor sechs Jahren mit der Arbeit begann und nur 31 Mitarbeiter für 15 Mitgliedstaaten stellt. Das, was in manchen arabischen Medien geschieht, ist höchst beunruhigend und muss bekämpft werden. Wenn in einer Moschee Reden gehalten werden, die die Grundprinzipien der Demokratie bedrohen, dann muss man dagegen strafrechtlich vorgehen. Auch muss der Dialog mit den Unentschiedenen geführt werden, die daran interessiert sind. In Frankreich gibt es z.B. aber auch eine positive Entwicklung, und seitdem die Regierung das entschieden umsetzt, sank die Anzahl der antisemitischen Straftaten im letzten Jahr um 35 Prozent.
In der EUMC-Studie werden die antisemitischen Täter als männlich, im Alter zwischen 15 und 24 Jahren, mit einer niedrigen Ausbildung und einen teils kriminellen Hintergrund beschrieben. Welche weiteren „Merkmale“ treffen ihrer Meinung nach auf sie zu?
Winkler: Sie haben eine instabile Persönlichkeit und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein. Und sie befürchten einen sozialen Abstieg. Die Muslime in Frankreich identifizieren sich außerdem mit den Palästinensern.
Sehen Sie eine Art "Wettbewerb" zwischen Moslems und Juden um die Rolle der Opfer? Versuchen die Moslems, die nach den Anschlägen vom 11. September zunehmend diskriminiert werden, diese Rolle einzunehmen, die bisher den Juden aufgrund des Holocaust zuteil wurde?
Winkler: Seit dem 11. September zieht sich die Mehrheitsgesellschaft immer mehr zurück und sehnt sich nach Homogenität, was Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung des Anderen erzeugt.
Das Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität in Berlin warf Ihnen vor, sie hätten die erste Studie über Judenfeindlichkeit in der EU, die das Zentrum in Ihrem Auftrag vorbereitet hatte, unter Verschluss gehalten - vielleicht weil der Bericht jugendliche Muslime nicht als antisemitische Täter bezeichnet und die EUMC sich seit Jahren Strategien gegen die "Islamophobie" widmet. Aus welchen Gründen haben Sie so gehandelt?
Winkler: Zum einen enthielt die Studie eine Fülle von nicht tragfähigen und schädlichen Verallgemeinerungen, zum Beispiel ‚die Muslime’. Es handelte sich immer nur um einzelne Muslime. Zweitens waren die Schlussfolgerungen nicht durch den kurzen Erhebungszeitraum von einem bis zwei Monaten gedeckt. Wir wollten eine schnelle Einschätzung der Situation haben und einen öffentlichen Diskurs führen, um auf das neue Phänomen aufmerksam zu machen. Der Verwaltungsrat der EUMC fand die Daten unzureichend und daher verfolgten wir es weiter – tiefgehender und systematischer. Das Ergebnis ist dieser neue 344 Seiten umfassende Bericht.
Ist ein Schaden durch die Auseinandersetzung mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung entstanden, nachdem der erste Bericht durch den EU-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit zugänglich gemacht wurde?
Winkler: Diese Worte haben mich sehr erstaunt, denn diese Nachricht kam im November 2003 zu einem Zeitpunkt, wo wir mit dem anderen Bericht fast fertig waren, der zu ähnlichen Ergebnissen kommt.
Was nehmen Sie von der OSZE-Konferenz mit nach Hause?
Winkler: Was ich mitnehme ist der Wunsch, die Vorschläge aus dieser Konferenz rasch und effektiv umzusetzen. Berlin sollte ein Anfangspunkt sein. Wir werden herausfinden, wer für deren Umsetzung in den 15 Staaten zuständig ist und sie alle konkret ansprechen, damit sie diese Empfehlung implementieren. Ein solcher Bericht irritiert in seiner Gründlichkeit und Klarheit. Außerdem werden wir Koordinationsstellen in allen neuen EU-Staaten gründen, um auch dort Daten über Antisemitismus zu sammeln.
Igal Avidan, © Qantara.de 2004