Aus Buchenwald ins Theater

„Wir müssen die Wirklichkeiten des Holocaust anerkennen; nicht als Blankoscheck für Israelis, um uns zu misshandeln, aber als ein Zeichen unserer Humanität, unserer Fähigkeit, Geschichte zu verstehen, unserer Forderung nach gegenseitiger Anerkennung unserer Leiden”, schrieb Edward W. Said, eine der Ikonen des palästinensischen Widerstands und Denkens, 1998 in der arabischen Tageszeitung al-Hayat.
Heute gewinnen die Protagonist*innen eines aktiven Vergessens im rechten Lager in ganz Europa an Terrain. Gerne reduzieren sie diesen Teil der deutschen Geschichte auf einen „Vogelschiss“, wie Alexander Gauland von der sogenannten „Alternative für Deutschland” es einst ausdrückte.
Gegen dieses Vergessen und für eine Verbindung zwischen Generationen und Regionen setzen die renommierte palästinensische Schauspielerin Hiam Abbass und der französische Regisseur Jean-Baptiste Sastre ein Gedenk- und Kunstprojekt. Sie haben sich vorgenommen, die „markanten Worte” von Jorge Semprún, einem Überlebenden des Lagers Buchenwald, auf die Bühne zu bringen, damit diese „in den heutigen unruhigen Zeiten, in denen der Antisemitismus in Europa jeden Tag zunimmt, widerhallen“ können.
Hiam Abbass wurde 1960 in Nazareth geboren. Sie gehörte der palästinensischen Theatertruppe El Hakawati in Ostjerusalem an und ging schließlich nach London und Paris, um ihrer schauspielerischen Berufung nachzugehen. Bekannt wurde Abbass unter anderem durch die Filme „Die syrische Braut” (2004) und „Lemon Tree” (2008), „München” (2005), Blade Runner (2017) und „Kein Tier. So wild” (2025).
Jean-Baptiste Sastre studierte Regie und Schauspiel am ‘Conservatoire National Supérieur d'Art dramatique’ in Paris. Seit Jahren inszenieren Abbass und Sastre zusammen und entwickelten dabei eine Arbeitsweise, die das soziale Umfeld ihrer Projekte einbezieht.
Mit jungen Erwachsenen aus Deutschland und Frankreich haben sie nun im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald den Text „Schreiben oder Leben“ des spanischen Literaturnobelpreisträgers Jorge Semprún geprobt.
Premiere des Theaterstücks war im April in der Gedenkstätte Buchenwald anlässlich des Festakts zur Befreiung der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora vor 80 Jahren. Anschließend wurde das Stück in Berlin im Maxim Gorki Theater aufgeführt und geht nun unter anderem nach Paris, Toulon, Aix-en-Provence.

Als Mitglied des kommunistischen Widerstands war Semprún von Januar 1944 bis zur Befreiung des Lagers am 11. April 1945 inhaftiert. Buchenwald war eines der größten und berüchtigtsten Konzentrationslager im nationalsozialistischen Deutschland. Zwischen 1937 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten hier schätzungsweise 56.000 Menschen.
Semprún entschied sich nach der Befreiung zunächst für die Aktion, für das Leben und gegen das Schreiben, obwohl er seit seiner Jugend Schriftsteller werden wollte. Für zehn Jahre kehrte er in den Untergrund gegen das faschistische Franco-Regime zurück. Erst – oder schon – 1963 erschien sein autobiographischer Roman „Die große Reise“, in dem er eine fünftägige Fahrt in einem Eisenbahnwaggon in das Konzentrationslager Buchenwald schildert.
Semprún dachte nicht, man könne über „das Grauen“ oder den Zivilisationsbruch nicht schreiben. Im Gegenteil! Nicht darüber zu schreiben sei doch wohl nur eine bequeme Ausrede, schreibt er im Buch. Die gut durchdachte Vernichtungsmaschinerie der Nazis war menschlich, und warum sollte man über Menschliches nicht schreiben können?
Aus „Schreiben oder Leben“:
„Doch kann man es erzählen? Wird man es können? Der Zweifel überkommt mich schon in diesem ersten Augenblick. Es ist der 12. April 1945, der Tag nach der Befreiung von Buchenwald. Die Geschichte ist also frisch. Es bedarf keiner besonderen Gedächtnisanstrengung. Auch keiner glaubwürdigen, überprüften Dokumente. Der Tod steht noch im Präsens. Alles spielt sich vor unseren Augen ab, man braucht nur hinzuschauen. Sie sterben weiterhin zu Hunderten, die Ausgehungerten des Kleinen Lagers, die überlebenden Juden von Auschwitz.“ (Jorge Semprún, Paris 1994)
Die Ermordeten kamen aus Ägypten, Algerien, Iran
Es ist ein unaufgeregter, sonniger Tag im März, als die Gruppe – einunddreißig junge Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahren – für die Proben nach Buchenwald kommt. Alle stehen bereits im Berufsleben. Hier setzen sie sich etwas Neuem, Unerwartetem und Unberechenbarem aus.
Die meisten Deutschen kommen aus Berlin, die Franzosen aus der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois und der Kleinstadt Bourges. Eine Reihe von ihnen kommen aus sozial marginalisierten Gruppen und Inklusionsprojekten. 42 Prozent der Bevölkerung in Clichy-sous-Bois lebten 2022 unterhalb der Armutsgrenze.
Am ersten Tag gibt es einen Rundgang durch das Lager. Alle kämpfen damit, sich eine Vorstellung von dem Geschehen an diesem Ort zu machen: Wo stand die Baracke, in der Semprún untergebracht war? Wo starb Maurice Halbwachs, bei dem Semprún Philosophie studiert hatte? Wo waren die Latrinen? Die Teilnehmer*innen fragen, ob Weiße und Schwarze im Lager getrennt untergebracht wurden?
Warum wurde jemand freiwillig SS-Aufseher hier? Wie konnten die Bürger im nahegelegenen Weimar wegschauen? Wie konnten sie die vielen Toten nicht bemerken, wenn die Nazis doch bis zum Sommer 1940 die Leichen der Häftlinge ins städtische Krematorium auf dem Weimarer Zentralfriedhof brachten? Erst drei Jahre später baute das Erfurter Familienunternehmen Topf & Söhne sechs Spezialöfen im Lager – basierend auf der Technik zur Verbrennung von Tierkadavern –, die später auch in Auschwitz zum Einsatz kamen.
Daher sollte man es nicht Krematorium nennen, erklärt ein Pädagoge der Gruppe, denn ein Krematorium sei ein Ort der Trauer und Pietät, in dem es nicht allein um die Einäscherung, sondern um rituelle und würdevolle Aspekte im Umgang mit Verstorbenen gehe. Diese Aspekte habe es in Buchenwald nicht gegeben.

"Der Nahostkonflikt lässt sich nicht in Marburg lösen"
Der 2020 gegründete Verein "Gemeinsam e.V., Marburger Gemeinschaft für Jüdisch-Muslimischen Dialog" ist einzigartig in Deutschland. Juden und Muslime kämpfen in der 80.000-Einwohner-Stadt zusammen gegen Hass und für Dialog. Kann das gelingen? Ein Ortsbesuch von Oliver Pieper
Eines der wenigen Fotos auf dem Gelände der Gedenkstätte zeigt, dass Häftlinge kurz nach der Befreiung des Lagers Kränze über den Leichen vor dem Krematorium aufhängten. Ein paar Schritte von der Verbrennungsanlage entfernt, auf der anderen Seite des Stacheldrahts, ist der sogenannte Zoo – eine Miniumfriedung für ein paar Bären, Hirsche und Affen. Die Familien der SS-Soldaten, aber auch zivile Arbeiter konnten hier spazieren gehen.
Es sind nur wenige Schulklassen, die an diesem Tag durch die Gedenkstätte geführt werden. In der Mittagspause treffen die vom deutschen Eintopf nicht sehr überzeugten Französinnen und Franzosen auf eine Schulklasse aus Frankfurt am Main. Ein enthusiastischer Austausch über Fußball hilft über die Sprachbarrieren hinweg. Ein Mädchen mit Kopftuch wird gefragt, welche familiären Wurzeln sie habe? Ihre Familie kommt aus Palästina. Arabischer Slang wird ausgetauscht.
Da stehen sie in der Sonne von Buchenwald, junge Erwachsene aus Deutschland und Frankreich, deren Eltern oder Großeltern aus Nordafrika und Nahost kommen. 1995 wurde hier eine Gedenkplatte eingelassen, die dauerhaft auf der menschlichen Körpertemperatur von 36,5 Grad gehalten wird und alle Länder aufzählt, aus denen die Opfer stammten: darunter Ägypter, Algerier, Iraner, Marokkaner, Syrer und Senegalesen. Die jungen Erwachsenen weisen sich gegenseitig irritiert darauf hin.

In der Inszenierung von Abbass und Sastre sprechen die Laiendarsteller*innen auf einer kargen Bühne unterschiedliche Passagen aus dem Werk „Schreiben oder Leben“ in verschiedenen europäischen Sprachen. Der Text selbst wiegt schwer. Dazu wird gesungen, gezeichnet und – sehr beeindruckend – die Todesfuge von Paul Celan durch einen der Teilnehmer, Lukas Blaukovitsch, rezitiert. Die Diversität der Gruppe gibt dem Stück nicht nur Aktualität, sondern auch Direktheit.
Durch die Gruppe nimmt man Anteil an dem, was Semprún im Konzentrationslager erlebte. Sagbar sei das Erlebte; man könne immer alles sagen, schrieb er in „Schreiben oder Leben“. Aber zur Substanz des Gesagten würden nur die vordringen, „die es verstehen, ihr Zeugnis in ein Kunstwerk, einen Raum der Schöpfung zu verwandeln.“ Diesen Raum schaffen Abbass und Sastre und die jungen Menschen aus Clichy-sous-Bois, aus Bourges und Berlin.
Bewegt berichtet die Gruppe, dass sie zwei ehemalige Häftlinge treffen können: Vasile Szekely und Raymond Renauld. Erst am Ende erzählt der 101-jährige Renauld, dass er noch zwei Gedichte auf Deutsch aufsagen könne: Goethes Erlkönig und das Heideröslein. Zusammen stimmen sie „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ an – ein Lied, das von den Teilnehmer*innen zufällig genau für diese Inszenierung ausgewählt wurde. „Das war für mich der emotionalste Moment“ im Projekt, sagt Pauline Ludwig, eine der Teilnehmer*innen.
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