Anklage gegen das Vergessen

Ein Unterarm eines jungen Mannes mit einem Tattoo
Gezeichnet: Namık Arslan trägt ein Tattoo mit der Jahreszahl 1992 und einem Bild des angegriffenen Hauses. Er war damals acht Monate alt. (Foto: Inselfilm Produktion)

Kurz nach der Wiedervereinigung verübten Neonazis einen Anschlag auf türkische Familien. In „Die Möllner Briefe“ kommen nun Überlebende zu Wort. Jahrzehntelang ahnten sie nichts von Hunderten Solidaritätsbriefen, die ihnen nie zugestellt wurden.

Von Schayan Riaz

Es ist die Nacht vom 23. November 1992. In Mölln werfen zwei Neonazis Molotowcocktails in Häuser, in denen überwiegend türkische Familien leben. Nach der Tat rufen sie die Polizei an, machen auf ein brennendes Haus in der Ratzeburger Straße aufmerksam und beenden das Telefonat mit „Heil Hitler”.  

Es sterben die zehnjährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz sowie die 51-jährige Bahide Arslan. İbrahim Arslan ist erst sieben Jahre alt und überlebt nur knapp, da ihn seine Oma, bevor sie dem Feuer erliegt, in nasse Tücher eingewickelt hat. İbrahims Bruder Namık, acht Monate alt, kann auch gerettet werden. Seine Mutter wirft ihn aus dem Fenster. 

Heute, mehr als 30 Jahre später, arbeiten İbrahim und Namık weiter ihre Traumata auf. Sie geben Workshops an Schulen und erzählen ihre Geschichten. So auch in Martina Priessners Dokumentation Die Möllner Briefe. Der Film feierte im Frühjahr auf der Berlinale Premiere und läuft jetzt in den deutschen Kinos an.  

Dass ihre Vergangenheit schwer auf beiden Männern lastet, ist offensichtlich. Wenn etwas im Ofen brennt und İbrahim Rauch riecht, dann kommen Erinnerungen hoch. Er hat Schlafstörungen und muss permanent husten. Und er bildet sich Sachen ein. Auf einmal ist er wieder im Haus, zwischen den Flammen. Auch Namık spricht offen über die psychologische Hilfe, die er benötigt. Die Kindheit sei anstrengend gewesen, immer wenn dieses eine Thema aufkam. 

Soli-Briefe verschwanden im Archiv

Bei Filmen über rechte und rassistische Gewalt, ob in Deutschland oder anderswo, darf ruhig die Frage gestellt werden, wie notwendig solche Projekte sind. Geben sie den Betroffenen eine Stimme und regen das Publikum zum Nachdenken an? Oder laufen sie Gefahr, die Täter ins Zentrum zu rücken und sie zu glorifizieren?  

Besonders problematisch wird es, wenn Hinterbliebene vor der Kamera noch einmal durchleben, was ihnen passiert ist. Wertvoll kann ein solches filmisches Projekt nur dann sein, wenn es neue Perspektiven eröffnet, die das Geschehen nicht nur dokumentieren, sondern auch Wege aufzeigen, das Traumatische zu verarbeiten. 

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Der Regisseurin Priessner ist das gemeinsam mit der Familie Arslan gelungen. Die Möllner Briefe zeigt, dass der Anschlag nur ein Teil der Geschichte ist: Über dreißig Jahre lang wurden der Familie Arslan und weiteren Betroffenen Briefe vorenthalten, die von Menschen aus Mölln, aber auch aus ganz Deutschland unmittelbar nach der Tat geschrieben worden waren.  

Tröstende Worte, solidarische Worte, Zeichnungen von Kindern, kleine Geschenke – all das verschwand in einem städtischen Archiv, weil der damalige Bürgermeister die Schreiben nie der Familie aushändigte und sie stattdessen selbst öffnete und teils sogar beantwortete. So viel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, zur Erinnerungskultur in diesem Land.  

Als eine Filmstudentin vor einigen Jahren zufällig auf die vergessenen Schriften stieß, wandte sie sich an İbrahim. Erst dann wurden die Briefe von den eigentlichen Adressaten gelesen.  

Wie kommt es zu so einem Unding? „Als wir 2019 durch Zufall von den Briefen höhrten und erfahren haben, dass wir so viel Solidarität von der Mehrheitsgesellschaft bekommen hatten, die Briefe aber Jahre lang nicht lesen durften, war das ein großer Vertrauensmissbrauch für uns“, erzählt İbrahim Arslan im Gespräch mit Qantara.  

„Wie kann ein Bürgermeister die Briefe einfach öffnen? Und sich zusätzlich noch die Frechheit erlauben, sie zu beantworten?” Der Bürgermeister, sagt Arslan, habe die Solidarität entgegengenommen, die für die Betroffenen bestimmt war, und so eine Art Opfer-Täter-Umkehr vollzogen. „Er stellt sich in die Opferrolle, indem er die Briefe an sich genommen und die Solidarität aufgesaugt hat, die für uns bestimmt war. Das ist so absurd. Es ist wie ein zweiter Anschlag für die Betroffenen.“ 

Ibrahim Arslan spricht bei der Gedenkveranstaltung, im Hintergrund die Fotos der Opfer des Anschlagser
 İbrahim Arslan spricht bei einer Gedenkveranstaltung zum Attentat von 1992. (Foto: Inselfilm Produktion)

Parallelen zu heutigen Anschlägen

Priessners Film ist nicht nur ein Dokument der Vergangenheit, er ist auch eine Anklage gegen das Vergessen und gegen die Strukturen, die Opferfamilien nicht in den Vordergrund stellen. In einer Zeit, in der rechte Ideologien wieder erstarken, ist der Film ein Spiegel, der das migrantische Leben im Nachkriegsdeutschland sichtbar macht und zeigt, wie bestimmte Wunden bis in die Gegenwart reichen. Parallelen zu heutigen Anschlägen, wie etwa in Hanau, sind unübersehbar.  

Im Gespräch mit Qantara erzählt die Regisseurin, wie Mölln auch für sie eine Zäsur war. „Ich war damals 23 Jahre alt und habe mich dadurch politisiert. Die Stille im Land, diese Empathielosigkeit, die hat sich seitdem auch nicht geändert.“  

İbrahim lernte sie vor fünf Jahren kennen, und er erzählte ihr von den Briefen. Auf eine Art, sagt Priessner, habe sie das alles nicht überrascht, andererseits sei sie schockiert gewesen. Sie sah es als ihren Auftrag, sich an dieses Thema ranzumachen. Vor allem ein Satz von İbrahim sei für sie entscheidend gewesen: „Er hatte mir gesagt, dass es die größte Sehnsucht seiner Familie sei, dass sie ihre Geschichte selbst erzählen. Dadurch würde ihr Trauma nicht unbedingt weggehen, aber es wäre alles leichter zu ertragen.“  

Dass die Familie so großen Wert darauf legt, wie und von wem ihre Geschichte erzählt wird, ist verständlich. Denn auf den Staat konnten sie sich noch nie richtig verlassen. Dass sie nichts von der Existenz der Briefe erfuhren, war nur ein weiterer Fall vom unsäglichen Umgang mit ihnen nach dem Anschlag. Aber es gibt weitere: Die Stadt Mölln trägt jedes Jahr eine Gedenkveranstaltung aus, doch die Familie Arslan meidet diese, weil sie nur als Gäste eingeladen werden, nicht als Hauptorganisatoren. Aus diesem Grund veranstalten sie ihre eigene, von der Stadt unabhängige Veranstaltung. 

Gegenseitiges Empowerment

İbrahim hat kein Vertrauen mehr in staatliche Institutionen. Für ihn ist all das auch ein klarer Fall von Rassismus. „Ich habe mich immer wieder gefragt, was wäre passiert, wenn das alles einer weißen deutschen Familie passiert wäre? Zumindest hätten sie die Briefe wahrscheinlich bekommen und viel mehr Hilfe. Vielleicht gäbe es heute auch eine andere Art, mit Betroffenen umzugehen. Mit uns haben sich Menschen ja auch solidarisiert, aber wir dachten, es gibt keine solidarischen Menschen in Deutschland, weil wir ihre Briefe nicht erhalten haben. Wir dachten, wir sind komplett auf uns allein gestellt.“ 

Nur: Sie waren nicht allein und das ist der wichtigste Aspekt des Films. Die Briefe, die sie nie lesen durften, werden nach und nach eingeblendet und sind ein ergreifender Teil der Dokumentation. Ein zehnjähriges Kind möchte İbrahim trösten, ein zwölfjähriges Mädchen aus Hamburg schämt sich, deutsch zu sein. 

„Wozu die Brandstiftung“, „Weg mit den Hakenkreuzen“ und weitere klare Botschaften, die der Familie gutgetan hätten, in einer Zeit, in der sie dachten, ihr Schicksal kümmere niemanden. In einer Zeit, in der sogar die Polizei die Familie schikanierte: Beim „Tag der Offenen Tür“ sagten sie zum kleinen İbrahim damals in spöttischer Weise, dass er mit seinen türkischen Wurzeln die Zelle irgendwann mit Sicherheit von innen sehen würde. 

In Die Möllner Briefe trifft sich İbrahim mit einer der Absenderinnen und bedankt sich persönlich. Er spricht auch mit einer jüdischen Lehrerin und tauscht sich mit ihr über Angst aus, über Verbindungslinien von Hoyerswerda über Rostock zu Mölln. Diese Begegnungen scheinen ihm besonders wichtig zu sein. „Wir müssen gegenseitig Vertrauen aufbauen mit Personen, die von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt betroffen sind”, sagt er.   

„Dieses gegenseitige Vertrauen und das gegenseitige Empowerment sind ein wichtiger Bestandteil für das Überleben in diesem Land. Wir können uns nur gegenseitig stärken, indem wir uns auf Augenhöhe begegnen und uns unsere Geschichten erzählen. Sonst wird es niemanden mehr geben, der uns mit Empathie zuhört. Das können nur wir.“ 

Die Möllner Briefe erscheint zu einer Zeit, in der rechte Narrative wieder Teil des Mainstreams sind. Faschisten sitzen wieder im Bundestag. Wie funktioniert man in so einem Klima, vor allem als Betroffener von rechter Gewalt? Und wie wichtig ist es hierzubleiben, wenn viele schon darüber nachzudenken auszuwandern?  

Für İbrahim ist das eine klare Sache: „Wir können nicht der deutschen Justiz vertrauen. Wir können nicht Politikern oder den Medien vertrauen. Wir müssen eigene Medien schaffen. Wir müssen eigene Politiker schaffen. Und das geht nur, wenn wir hierbleiben. Wenn wir uns vernetzen, wenn wir Allianzen schaffen. Deswegen werden wir in Deutschland bleiben. Ich vertraue der Politik schon seit Jahren nicht. Ich vertraue nur meinen Menschen. 

© Qantara.de