Die ignorierte Gefahr

Unter Demokrat:innen besteht weitgehend Konsens darüber, dass der organisierte Rechtsextremismus aktuell die größte Bedrohung der Demokratie in Deutschland ist. Längst ist er auch wieder im Bundestag vertreten. Die mit rund 12.000 Akteuren zweitgrößte rechtsextremistische Gruppierung in Deutschland nach der AfD wird hingegen weitgehend ignoriert: die türkischen Grauen Wölfe.
Sie sind aus der extremen Rechten in der Türkei hervorgegangen, die eine lange Geschichte von Gewalt, Rassismus und Ausgrenzung hat. In der heutigen Türkei sind sie zumindest in Teilen ihrer Ideologie mehrheits- und anschlussfähig.
Mit „Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland“ hat der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli nun ein Übersichtswerk vorgelegt, das die historischen Wurzeln dieses Extremismus erläutert, seine Entwicklung seit Ende des Osmanischen Reiches bis heute nachzeichnet und schließlich analysiert, welche Einflussstrukturen er in Deutschland etabliert hat.
Das Buch dürfte zu einem Standardwerk werden, ist dieser Themenkomplex doch bislang kaum erforscht und wird weder politisch noch gesellschaftlich nennenswert thematisiert.

Dass der Genozid an den Armenier:innen von 1915 in der Türkei bis heute weitgehend geleugnet oder zumindest relativiert wird und nach wie vor Straßen nach Tätern benannt sind, ist auch hierzulande bekannt. Weniger im Bewusstsein ist, dass türkische Organisationen, meist aus der rechtsextremen Szene, immer wieder auch in Deutschland gegen die Thematisierung und das Gedenken an den Genozid agitieren, wie zum Beispiel gegen die Bundestagsresolution von 2016 oder gegen das Genozid-Mahnmal in Köln.
Die Gründe für die anhaltende Leugnung erklärt Küpeli in seinem Buch:
„Die Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids würde sowohl die Grundlagen der türkisch-islamischen Ideologie als auch die Selbstidentität der türkischstämmigen Menschen erschüttern. Die ideologischen Vorstellungen über die türkische Nation könnten über die Erkenntnis, dass die Schaffung der türkischen Nation auf unvorstellbaren Gewaltakten basiert und die türkisch-muslimische Identität nur denkbar ist aufgrund von massiven Ausschlüssen und Vernichtungen, fragil und brüchig werden.“

Rütteln am Tabu
In der Türkei werden immer mehr Stimmen laut, die die offizielle Geschichtsschreibung kritisieren. Eine weitgehend ignorierte alternative Geschichtsschreibung stellt die historischen Tabus und das politische Narrativ in Frage.
Und das ist nur ein Aspekt dieser Ideologie, deren Wurzeln auf die jungtürkische Bewegung und das Ende des Osmanischen Reiches zurückgehen. Detailliert nimmt Küpeli die völkisch-nationalistischen Narrative auseinander, deren Kern eine ständige Überhöhung des Türkentums bis hin zu historisch abstrusen und schlicht falschen Aussagen ist, wie beispielsweise die Behauptung, alle Sprachen der Welt hätten sich aus dem Türkischen entwickelt.
Es ist ein Identitätsbild, das auf rassistischer Ausgrenzung basiert. Es richtet sich nicht nur gegen Armenier:innen, sondern auch gegen Kurd:innen, Juden und Jüdinnen, Christ:innen und weitere Minderheiten – letztlich gegen jede Form von Vielfalt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts mündete diese Ideologie in zahlreichen Vertreibungen und Massakern, verübt mal eigenständig von rechtsextremen Gruppen, mal Hand in Hand mit der jeweiligen Regierung in Ankara.
In der Türkei wurden seit der Republikgründung 1923 Zehntausende Menschen ermordet und Hunderttausende vertrieben. Dass die regierende AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eine Nähe zu rechtsextremen Parteien und Gruppen pflegt, mag kaum verwundern. Aber auch die kemalistische CHP und andere bedienen sich bis heute rechtsextremer und rassistischer Sprache, wenn sie glauben, auf diese Weise Wähler:innen mobilisieren zu können.
Graue Wölfe haben es in Deutschland leicht
In Deutschland gelang es den Grauen Wölfen in den Siebzigern erstmals Fuß zu fassen – und zwar mit aktiver Unterstützung von CDU und CSU, die vor den Verbrechen die Augen verschlossen und in den Extremist:innen einen Verbündeten im Kampf gegen den Kommunismus sahen, wie Küpeli erläutert.
Grundlage dafür war demnach ein Treffen des Rechtsextremisten Alparslan Türkeş mit dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß im Jahr 1978. In der Folge baute die rechtsextreme türkische Partei MHP auch Kontakte zur deutschen NPD auf – nur eines von vielen Beispielen, die demonstrieren, dass völkische Ideologien oft grenzüberschreitend wirken.
In der deutschen Öffentlichkeit sind die Grauen Wölfe und ihre teils mit dem türkischen Staat verflochtenen Ableger auch deshalb kaum präsent, weil sie sich in ihrer Propaganda und Rekrutierung (die heute neben den Vereinen meist via Social Media stattfindet) vor allem auf türkeistämmige Menschen konzentrieren. Aber auch, so Küpeli, weil anti-armenische und anti-kurdische Ressentiments in Deutschland kaum eine Rolle spielen.
Wo die Grauen Wölfe hingegen Anschluss fänden, erläutert Küpeli, sei unter deutschen Antisemit:innen und Israelfeinden, an deren Demonstrationen sie auch seit dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 verstärkt teilnähmen, um sich weiter zu vernetzen.
Neben Anfeindungen und Einschüchterungen gibt es seitens der türkischen Rechtsextremist:innen in Deutschland und anderen EU-Ländern auch immer wieder offene Gewaltausbrüche, so etwas 2020 in Frankreich und Österreich, wo Armenier:innen bzw. Kurd:innen angegriffen wurden. Diese Ereignisse haben die dortige Politik aufgerüttelt und führten zum Verbot der Grauen Wölfe.
Die deutschen Bundesregierungen hingegen tun sich immer wieder schwer, gewalttätige rechtsextreme Organisationen zu verbieten und für eine wehrhafte Demokratie einzutreten, weshalb es solche Gruppen in Deutschland leichter haben als in anderen Ländern. Forderungen nach einem Verbot der Grauen Wölfe auch hierzulande gibt es zwar schon lange, doch von der Politik werden sie weitgehend ignoriert.
Im Schlussteil seines Buchs entwirft Küpeli mögliche Handlungsstrategien, sowohl für die Politik als auch für die Zivilgesellschaft, wobei Bildung und Medienkompetenz eine wichtige Rolle spielen, um Codes türkischer Rechtsextremist:innen im Alltag und im Netz überhaupt erkennen zu können. Außerdem fordert er, dass sich staatliche Stellen intensiver mit dem Problem befassen.
„Graue Wölfe. Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland“
Ismail Küpeli
Unrast Verlag
Münster 2025
136 Seiten
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