Brückenschlag zwischen religiös und säkular

Author Sherman Jackson
Sherman Jackson schreibt, die pauschale Übertragung des westlichen Konzepts des Säkularen auf den Islam habe zu erheblichen Ungenauigkeiten und blinden Flecken im Verständnis des “islamischen Säkularen” geführt. (Foto: J. Scott Applewhite/AP Photo/picture-alliance)

In "The Islamic Secular" (dt. "Das islamische Säkulare") plädiert Sherman Jackson für ein neues Verständnis des “Säkularen” im Islam, das weder außerhalb der Religion steht noch mit ihr konkurriert.

Von Muhammed Nafih Wafy

Auf den ersten Blick scheint der Begriff "das islamische Säkulare" ein Widerspruch in sich zu sein. Das Adjektiv “säkular” ist zwar ein überstrapaziertes Wort, wird aber im modernen akademischen Sprachgebrauch meist als Gegensatz zu “religiös” oder “sakral” verwendet. Der Gegensatz von “säkular” und “sakral” ist im westlichen und eurozentrischen Diskurs so stark verankert, dass Handlungen, Ideen oder Institutionen entweder als “religiös” oder als “säkular” bezeichnet werden, aber niemals als beides zugleich. 

“Säkular” wird meist mit Entwicklung und Modernität assoziiert, “religiös” dagegen mit einer gewissen Rückständigkeit. Während die “sakrale” Seite dem “Säkularen” vorwirft, das Profane und Ausschweifungen zu fördern, nimmt die “säkulare” Seite für sich in Anspruch, Staat, Wirtschaft und Wissenschaft aus den Fängen einer überholten Religion befreit zu haben. 

In seinem jüngsten Buch "The Islamic Secular" vertritt Sherman Jackson, Professor für Religion, American Studies und Ethnizität an der University of Southern California, USA, die Auffassung, dass die islamische Rechtstradition, insbesondere die usūl al-fiqh, also die Lehre von den Rechtsquellen, die sich intensiv mit theoretischen und methodischen Konzepten befassen, ein anderes Verständnis des Säkularen nahelegt.  

Danach steht das Säkulare weder außerhalb der Religion noch in Konkurrenz zu ihr. Die pauschale Übertragung eines westlichen Verständnisses über das Säkulare auf den Islam habe, so Jackson, zu erheblichen Unschärfen und blinden Flecken im Verständnis des “islamischen Säkularen” geführt. 

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Mehr als "Scharia"

Jackson postuliert, dass das “Religiöse” im Islam nicht auf das sakrale Gesetz, das üblicherweise als “Scharia” bezeichnet wird, beschränkt werden kann. Der Geltungsbereich des Islam sei größer und umfasse alle Aspekte des menschlichen Lebens. Seine säkularen und sakralen Dimensionen überschnitten sich daher. Die “Scharia” - als ein von Gott offenbartes System - bleibe dagegen eine klar abgegrenzte Einheit. Auch die klassischen muslimischen Rechtsgelehrten hätten die “Scharia” nicht als ein alles umfassendes, ausschließliches Mittel zur Bestimmung des Islamischen verstanden. 

Jackson definiert diesen Raum, der nicht von der “Scharia” geregelt wird, als “islamisches Säkulares”, weil er doch innerhalb der Grenzen des Islam als Religion liegt. Der “islamisch säkulare” Bereich umfasst demnach alles, was nicht unter das Gebot der "Scharia" fällt, aber dennoch potenziell islamisch ist. 

"Zwischen dem Geltungsbereich der 'Scharia' und dem Islam insgesamt existiert ein Raum, in dem sich Muslime nicht allein auf konkrete göttliche Vorgaben verlassen können und dies auch nicht tun." Solange sie sich aber in diesem Raum bewegen, seien Muslime der Gegenwart und dem richtenden Blick des islamischen Gottes nicht enthoben und versuchten auch nicht unbedingt, sich ihm zu entziehen. 

Dazu bringt Jackson Beispiele aus der islamischen Architektur. So seien etwa die großartigen Bauten des großen osmanischen Architekten Sinan oder das von Ulugh Beg im 15. Jahrhundert gegründete Observatorium in Samarqand zu Wahrzeichen islamischer Architektur oder Wissenschaft geworden, nicht weil sie auf der Basis einer konkreten göttlichen Anweisung (“Scharia”) errichtet, sondern weil sie in "beharrlicher gläubiger Absicht" ausgeführt worden seien. 

Säkular und doch islamisch

Nach Jackson fallen diese beiden Bauwerke in den Bereich des “islamischen Säkularen”. Sie seien säkular, weil die Offenbarung Gottes kaum etwas zu ihrer konkreten Ausgestaltung beigetragen habe. Dennoch blieben sie religiös oder islamisch, weil die zugrundeliegende Intention von einem "bewussten Erkennen des göttlichen Blicks" geprägt gewesen seien, was sie nicht von anderen religiösen Handlungen oder Taten (ʿIbāda) unterscheide. 

Anders als der Gott der "Scharia", der lediglich befehle, erzeuge der Gott des “islamischen Säkularen” im Menschen "ein erhöhtes Bewusstsein, ein erhöhtes Gefühl der Erwartung und den Wunsch, Gott über die Erfüllung der konkreten Gebote hinaus zu gefallen". 

Jackson verweist auf die Bedeutung der für das tägliche Leben wichtigen Handlungen, die nicht unter die "Scharia" fallen, also säkular sind, und warnt vor jedem Versuch, diese als "nicht-islamisch" zu subsumieren und damit als nichtreligiös abzuwerten. Dies beeinflusse "die Einstellung der Muslime zur alltäglichen Wirkungskraft des Islam und zu sich selbst bei der Ausübung von Tätigkeiten, die gemeinhin als 'säkular' gelten". 

Die Spannung zwischen religiösem Ideal und menschlicher Realität führe entweder zu einem zivilisatorischen Scheitern, indem Muslime die Säkularisierung im modernen westlichen Sinne annehmen, oder zu einer zivilisatorischen Schizophrenie, die Muslime weiter in Richtung einer alles umfassenden und absolutistischen Vision der Scharia treibe, wie sie von islamistischen Bewegungen propagiert werde. 

Jacksons Werk befasst sich auch mit den Problemen, die sich aus der Vermischung von Kultur und Religion ergeben. "Die Tendenz, die Errungenschaften der traditionellen muslimischen Welt als einzig mögliche plausible Struktur für den Islam zu universalisieren", so Jackson, "verhindert mögliche effektivere Alternativen“. 

Der von ihm geforderte "composite islam" (deutsch etwa ein “zusammengesetzter Islam”, Anm. der Red.) umfasst weit mehr als das, was sich konkret aus den religiösen Quellen ableiten lässt, nämlich die reiche und lebendige Lebenswirklichkeit der Muslime zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. 

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Das Verständnis des “Islamischen” erweitern

Jackson entwirft die theoretischen Grundlagen des “islamisch Säkularen”, indem er sich kritisch mit einer Vielzahl von Größen auf dem Gebiet des Islam und des Säkularismus auseinandersetzt, darunter Talal Asad, Wael B. Hallaq, Abdullahi Ahmed An-Na'im, Andrew F. March, Toshihiko Izutsu, Marshall G.S. Hodgson und Shahab Ahmed. Seine Theorie des “islamisch Säkularen” deckt sich weitgehend mit der umfassenden Definition des pakistanischen, in Harvard lehrenden und 2015 verstorbenen Wissenschaftlers Shahab Ahmed in dessen posthum veröffentlichten Werk "What is Islam? The Importance of Being Islamic" (dt. "Was ist der Islam? Was es bedeutet, islamisch zu sein"). 

Shahab Ahmed wollte die Möglichkeiten des “Islamischen” über den begrenzten Bereich der “Fuqaha” (Rechtsexperten) und der Reichweite der Offenbarung über den Koran hinaus auf alle Arten der hermeneutischen Auseinandersetzung mit dem Koran ausdehnen, die er als Prä- und Kon-Text der Offenbarung bezeichnet. Ahmed schrieb diesen hermeneutischen Diskursen sogar eine dem Koran gleichwertige Autorität zu. 

Jackson widerspricht jedoch der Auffassung Shahab Ahmeds, der Koran könne von etwas hinter und jenseits der Offenbarung abhängen. Seiner Ansicht nach ist die Autorität des Kon-Textes "vorläufig, sekundär und unbeständig", während die Autorität des Koran "ursprünglich, primär und beständig" sei. 

Shabab Ahmed zufolge haben auch Nicht-Muslime einen Beitrag zu dem geleistet, was als "islamisch" bezeichnet werden kann. So hat er provokativ formuliert, "... die Tatsache, dass Aristoteles und Platon keine Muslime waren, ist schlicht irrelevant für das, was sie zum Islam beigetragen haben". Jackson hingegen schließt Beiträge von Nichtmuslimen zum “islamischen Säkularen” aus, es sei denn, sie seien "vermittelt durch einen von Muslimen geleiteten Validierungsprozess". 

Wobei er kein überzeugendes Beispiel für einen solchen Validierungsprozess bringt, sondern nur ein eher schwaches Beispiel anführt: "Eine Barbiepuppe, die einen Hijab trägt, wird nur dann zu einer islamischen Puppe, wenn sie durch die Akzeptanz und Popularität unter Muslimen validiert wird". 

Kurz gesagt, Jackson versucht in "Islamic Secular", den Bereich des “Islamischen” zu öffnen, indem er Aktivitäten oder Handlungen, die als säkular oder nichtreligiös gelten, in den Geltungsbereich des Islam miteinbezieht. Im Gegensatz zu Ahmed in "What is Islam?" verzichtet er jedoch darauf, ein allumfassendes islamisches Netz auszuwerfen. 

Abschließend bezweifelt er, dass "die Verwendung heutiger westlicher Sprachen", insbesondere des Englischen, den islamischen Glauben angemessen wiedergeben kann.  

Muhammed Nafih Wafy 

© Qantara.de 2024 

Muhammed Nafih Wafy ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt derzeit in Abu Dhabi. 

Sherman A. Jackson, The Islamic Secular, Oxford University Press 2024