Düstere Aussichten
Zweifellos tragen die politischen Parteien im Irak, die sich meistens durch die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft voneinander abgrenzen, stark zur gesellschaftlichen Spaltung im Irak bei. Dennoch sind sie nicht für alle Missstände verantwortlich.
Gravierende Strukturmängel in der ehemaligen irakischen Republik, begleitet von diskriminierender Regierungspolitik und fehlenden Freiheiten sowie die Verschlechterung der Wirtschafts- und Bildungssituation begünstigten die Entstehung der aktuellen religiös motivierten Spaltung.
Charakteristisch für die irakische Gesellschaft ist derzeit die Loyalität der Bürger zu politisch-konfessionellen Gruppierungen. Zur Sicherung des eigenen Überlebens ist es für die religiösen Parteien daher erforderlich, die kulturellen Ausrichtungen sozialer Gruppen insbesondere auf lokaler Ebene zu bedienen. Diese bilden schließlich die Basis dieser Volksparteien.
Daher wäre es für diese Parteien gefährlich, für eine Politik der kulturellen Vielfalt einzutreten. Eine solche Politik würde von den Anhängern nicht mitgetragen, da sie nicht die religiöse Zugehörigkeit und den politischen Repräsentanten ins Zentrum stellt.
Angesichts dieser Realität kommen einige Beobachter zu einer pessimistischen Beurteilung der Zukunft des Irak:
Mögliche Teilung des Irak
Derzeit steuere das Land auf die eine oder andere Weise auf eine geopolitische Spaltung hin. Auf den Trümmern eines mit eiserner Faust geführten, vereinigten und despotisch regierten Staates werden drei starke Gebilde entstehen, die neben einem zerbrechlichen Zentrum, das das Land diplomatisch nach außen vertritt, existieren werden.
Zudem werden zwei wichtige Faktoren den Fortbestand der jetzigen konfessionellen Parteien fördern: der Beitritt des Irak in die freie Wirtschaft und die Auswüchse administrativer, finanzieller und personeller Korruption.
Diese ermöglichen den Missbrauch von Gesetzen und öffentlichen Geldern zugunsten einflussreicher Gruppen und politischer Machteliten. Letztere verfolgen nur das Ziel, ihren Einfluss zu sichern und ihre Macht zu vergrößern.
Die Privatisierung des öffentlichen Sektors und die Investitionsmöglichkeit privater Unternehmen in verschiedenen Bereichen, insbesondere in der Ölwirtschaft, ebnen den Weg für die Entstehung von nationalen Wirtschaftskartellen, welche am Ende ihre einflussreichen Verbündeten aus der Politik fest im Griff haben werden.
Rolle der Wirtschaft
Viele irakische Beobachter halten diese Schilderungen für greifbare Realität. Und doch gibt es auch andere Anzeichen, die dieser Entwicklung entgegenwirken könnten:
Trotz des schleppenden Aufbaus und der Stagnation in weiten Teilen könnte die Wirtschaft selbst zur Überwindung des derzeitigen Erstarkens des ethnisch-konfessionellen Extremismus beitragen.
Es wird ebenfalls deutlich, dass sich viele schiitisch- und sunnitisch-islamistische Gruppierungen durch die zahlreichen Krisen der letzten vier Jahre eines großen Zulaufs erfreuen und in den öffentlichen Medien wahrnehmbarer werden. Bei einer stabilen Sicherheitslage würden diese politischen Gruppierungen einen starken Rückgang ihrer Anhängerschaft erleiden.
Optimisten sehen in der Wirtschaft das Wundermittel zur Lösung des heutigen Konflikts, der eng verbunden ist mit der Hoffnungslosigkeit in weiten Teilen der irakischen Gesellschaft, mit der Arbeitslosigkeit und dem geringen Bildungsgrad bei vielen Jugendlichen. Letztere ist das Ergebnis einer Verdummungspolitik zu Zeiten der internationalen Sanktionen und einer Vernachlässigung durch die ehemalige Regierung.
Bildungsgrad als einigendes Band
Die Optimistischen untermauern ihre Sichtweise mit mehreren Beispielen aus den in den letzten vier Jahren gemachten Erfahrungen.
Während der Kämpfe in der zentralirakischen Stadt Falludscha blieb es in den Wohnsiedlungen der Stadt weitgehend ruhig. Dies hing damit zusammen, dass die Bewohner dieser Siedlungen Angestellte und Fachkräfte aus den Bereichen Kunst, Ingenieurwesen und Medizin sind. Sie stellen einen Querschnitt der Gesellschaft in der Anbar-Provinz dar.
Es ist weder die Blutsverwandtschaft noch die Stammeszugehörigkeit, die diese Bewohner zusammenschweißt, sondern ihre Bildung und Schichtzugehörigkeit. Auch wenn die meisten von ihnen die amerikanische Offensive auf die Stadt scharf kritisierten, verurteilten sie genauso die andere Seite und betrachteten diese als Urheber der sinnlosen Kämpfe.
Trotz der Bedeutung des ökonomischen Faktors und der Wiederbelebung der Wirtschaft - die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Hebung des Lebensstandards der Gesamtbevölkerung – für die derzeitige ethnisch-konfessionelle Polarisierung, liegt in der Wirtschaft dennoch nicht der Schlüssel für die Lösung aller Probleme.
Kein Vertrauen in den Staat
Denn das Verhältnis zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der irakischen Gesellschaft und deren politischen Vertretern wird von Misstrauen geprägt bleiben, solange keine Staatsform und keine Grundpfeiler für einen Staat gefunden werden.
Einige wichtige Grundlagen für das politische Wirken sind zwar bereits geschaffen worden, eine endgültige und solide Verfassungsform wurde allerdings noch nicht erzielt.
Zudem ist ein tragfähiges Gebilde für die die Sicherheit gewährende Exekutive, für die Rechtssprechung und Administration bislang noch nicht geschaffen worden, die das Vertrauen der Bürger in den Staat stärken und eine Loslösung von der Bindung an die konfessionelle oder ethnische Gruppe oder die Wohnsiedlung ermöglichen würde.
Die Bürger – und wahrscheinlich auch die meisten Politiker – wissen nicht, wie die zukünftige Staatsform des Irak aussehen könnte. Zwar ist eine föderale Staatsform das öffentlich erklärte Ziel, niemand kennt jedoch die Form eines solchen Föderalismus und die Anzahl der zukünftigen Regionen bzw. Bundesländer.
Ungelöste Probleme
Fragen nach dem Öl, nach der Perspektive der Stadt Kirkuk und der Situation im gesamten Irak nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen sind nahe liegender und werden auch in den politischen Debatten in den Vereinigten Staaten thematisiert, so dass wahrscheinlich bald konkrete Antworten darauf vorliegen könnten.
Doch die Lösungen für diese Probleme sind äußerst diffus und beeinflussen stark das Bild von einem entstehenden Staat sowie die politische Orientierung der irakischen Bürger. Die Iraker verschanzen sich lieber hinter den Gemäuern ihrer monokonfessionellen Wohnsiedlung, solange die Situation im Land so instabil ist.
Auch wenn die irakischen Politiker im Chor von der Notwendigkeit einer nationalen Einheit sprechen und stets bemüht sind, den Vorwurf der konfessionellen Befangenheit zurückzuweisen, und auch wenn die Freitagsprediger im ganzen Land lauthals versichern, dass es keinen Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten gebe und dass alle Iraker seien, so bleiben die Aussagen allgemein und entbehren jedes Beweises.
Mit fortschreitender Zeit nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass ein ethnisch-konfessioneller Bürgerkrieg ausbrechen könnte, insbesondere nach der überwundenen Krise, die mit der Zerstörung der Kuppel der Goldenen Moschee in Samarra ihren Anfang nahm.
Einige politische Kräfte profitieren vom Instrument der konfessionell geschürten Gewalt als Einschüchterung ihrer Rivalen. Dennoch sind die Beteiligten am politischen Geschehen im Grunde der Meinung, dass ein Bürgerkrieg allen Seiten große Verluste bescheren würde.
Neue Erfahrungen
Die Sicherheitsfrage im Irak scheint noch nicht zu Ende diskutiert zu sein. Es ist zudem noch zu früh, ein Fazit aus der politischen Erfahrung im Irak zu ziehen, wenn man bedenkt, dass es eine politische Unterbrechung gegeben hat, die drei Jahrzehnte dauerte und in der die Baath-Partei das politische und kulturelle Leben im Irak bestimmte.
Die vierjährige Erfahrung in einem freien Umfeld des politischen Wirkens ermöglichte einen Vergleich der Parteien, woraus diese wiederum ihr eigenes politisches Gewicht ableiten und so die Balance zwischen der Wählerschaft, den Medien und der Macht ausloten.
Diese vier Jahre politischer Erfahrung können nur ein Anfang sein. Optimisten würden in diesem Fall meinen, dass eine Politik mit einer ethnisch-konfessionellen Prägung die natürliche Konsequenz echter politischer Erfahrung ist, dass sie jedoch allmählich verschwinden wird, sobald das Klima für einen Prozess der politischen Reifung günstig ist.
Gefahr einer Teilung
Eine pessimistische Auslegung der Lage bedeutet, dass sich eine neue Berliner Mauer durch irakische Wohnsiedlungen schlängeln wird, die die Trennung der ethnisch-konfessionellen Bevölkerung nach sich zieht.
Auch die Geschichte der Teilung des indischen Subkontinents in zwei Staaten, die eine wechselseitige Binnenmigration der beiden Bevölkerungsgruppen – Hindus und Muslime – nach sich zog, hat im Irak bereits vor einem Jahr begonnen, so dass ganze irakische Städte und Provinzen ihre ethnisch-konfessionelle Vielfalt verlieren.
Stimmen, die an dieser Stelle von einer Verschwörung sprechen, behaupten auch, dass die Zwangsumsiedlungen zugunsten einer ethnisch-konfessionelle Teilung in den irakischen Städten und Provinzen die politische Teilung nach föderalen Maßstäben vereinfachen.
Um eine konfessionelle und ethnische Trennung umzusetzen, halten es viele für notwendig, dass die irakische Bevölkerung noch weiteres Leid erdulden müsse, das erst endet, wenn jedweder Kontakt zwischen den Sunniten und Schiiten im Irak definitiv ausgeschlossen ist.
Nach Meinung objektiver Beobachter aber sei dies die denkbar ungünstigste Form eines föderalen Staates und gleichzeitig der Untergang einer historischen Beziehung zwischen den irakischen Ethnien.
Sie hat letztlich neben kriegerischen Auseinandersetzungen, Machtkämpfen und der Aberkennung von Rechten auch vielfältige Formen des Zusammenlebens und des kulturellen Schaffens hervorgerufen, die die kulturelle Identität des Irak ausmachen.
Ahamad Al-Saadawi
Übersetzung aus dem Arabischen von Raoua Allaoui
© Qantara.de 2007
Ahmad Al-Saadawi ist Journalist und lebt in Bagdad.
Qantara.de
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