Aufstand am Katzentisch
Deutschland versteht sich noch nicht lange als Einwanderungsland. Und das obwohl mehr als zwanzig Prozent aller Menschen in Deutschland statistisch gesehen einen sogenannten "Migrationshintergrund" besitzen – das heißt, sie oder ihre Eltern sind aus dem Ausland nach Deutschland zugewandert. Unter Schulkindern blickt hierzulande sogar jedes dritte auf eine familiäre Einwanderungsgeschichte zurück.
In manchen Klassenzimmern deutscher Großstädte bilden solche Kinder, die alles andere als eine homogene Gruppe sind, inzwischen sogar die Mehrheit. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – tun sich viele in Deutschland mit dieser Realität schwer. Davon zeugen die oft erregten Debatten um Integration, Rassismus oder die Stellung des Islam in Deutschland.
Integration in Deutschland - viel besser als ihr Ruf
Der Soziologe Aladin El-Mafaalani gibt jedoch Entwarnung. Er vertritt die These, dass die Integration in Deutschland viel besser sei als ihr Ruf. Mehr noch: Sie sei "heute so gut, wie sie noch nie in der deutschen Geschichte war", schreibt er in seinem Buch "Das Integrationsparadox". Darin berichtet El-Mafaalani aus eigener Erfahrung: Er ist als Sohn syrischer Einwanderer im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, lehrte als Professor an der Fachhochschule in Münster und wechselte 2018 als Abteilungsleiter ins nordrhein-westfälische Integrationsministerium nach Düsseldorf.
El-Mafaalani ist kein Schönredner: Er möchte die Probleme nicht relativieren, aber er will sie ins richtige Verhältnis setzen. Seine zentrale These lautet, dass Konflikte ein Zeichen gelingender Integration sind. Je stärker unsere Gesellschaften zusammenwachsen, desto heftiger werden die Debatten.
Dass die Integration in Deutschland oft als problematisch oder gar als "gescheitert" angesehen wird, liege an falschen Vorstellungen und falschen Erwartungen, meint er. Während ein Teil der alteingesessenen Bevölkerung von Einwanderern erwartet, dass sie sich anpassen, und für sie Integration gesellschaftliche Harmonie bedeutet, erwarten gerade gut integrierte Einwanderer, in ihrer sprachlichen und religiösen Identität anerkannt zu werden. Das führt zu Konflikten – und die nehmen zu, je mehr die Integration von Einwanderern voranschreitet.
Um dies zu veranschaulichen, benutzt El-Mafaalani eine Metapher, die Gesellschaften mit einem gemeinsamen Esstisch vergleicht. Die erste Generation der Einwanderer saß noch am Katzentisch und hielt sich bescheiden zurück.
Potenzierte Probleme
Das galt insbesondere für die sogenannten "Gastarbeiter", von denen viele häufig noch lange von einer Rückkehr in ihre ehemalige Heimatträumten, während die Alteingesessenen den Tisch für sich allein hatten. Ihre Kinder aber, die zweite Generation, beanspruchten für sich einen Platz am Tisch und ein Stück vom Kuchen.
Die dritte Generation, die Enkel der Migranten, möchte nun mitentscheiden, welcher Kuchen auf den Tisch kommt, und über die Tischregeln mitbestimmen. Damit potenzieren sich die Konflikte. Denn Probleme existieren nicht losgelöst von gesellschaftlichen Wahrnehmungen. Sie resultieren aus dem empfundenen Missverhältnis zwischen Erwartungen und Ansprüchen auf der einen und der erlebten gesellschaftlichen Wirklichkeit auf der anderen Seite.
So wächst mit der zunehmenden Teilhabe von Migranten auch deren Bewusstsein für – und ihre Empfindlichkeit gegenüber – Diskriminierungen. Während die erste Generation selbst krasse Ausgrenzung fast klaglos hinnahm, weil sie nichts anderes erwartete und auch nicht in der Position war, sich zu wehren, reagieren ihre Kinder und Enkelkinder auf vergleichsweise subtile Diskriminierung deutlich sensibler, weil sie sich als gleichberechtigt verstehen.
Mit der Integration wachsen die Erwartungen und Ansprüche. Aber auch der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft verschwindet nicht, nur weil die Integration von Einwanderern besser gelingt – im Gegenteil, er kann sogar zunehmen und zur Abwehr von unliebsamer Konkurrenz dienen, die einem nun auf Augenhöhe begegnet.
El-Mafaalani verdeutlicht das am Umgang mit dem Kopftuch: Solange es nur Putzfrauen trugen, erregte es auch in Schulgebäuden keinen Anstoß. Erst als die ersten Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten wollten, kam es zu Widerstand.
Für eine gepflegte Streitkultur als "Leitkultur"
El-Mafaalani plädiert für eine gepflegte Streitkultur als "Leitkultur". Vor Konflikten müsse man keine Angst haben: Konflikte brächten Gesellschaften voran, sie führten zu sozialen Innovationen. Fortschritte müssen aber erkämpft werden, sie fallen niemandem in den Schoß. In Sachen Integration nimmt El-Mafaalani die gesamte Gesellschaft in den Blick.
In einer offenen Gesellschaft zu leben sei eine ständige Herausforderung, anstrengend für Zugezogene wie für Alteingesessene. Wirtschaftliche Globalisierung, weltweite Kommunikation, Tourismus und Migration erhöhen den Stress. Migranten neigen generell zu kulturellem Konservatismus, manche ziehen sich verstärkt in ihre Religion zurück.
Aber auch Alteingesessene fühlen sich überfordert und flüchten in nationalistische Nostalgie. Das erklärt den gegenwärtigen Aufstieg des Rechtspopulismus.
Deutschland habe dabei das Glück, dass sich seine Populisten nicht darauf einigen könnten, welches nun "die gute alte Zeit" gewesen sei, die man sich zurückwünsche, spottet El-Mafaalani. Die Bundesrepublik der 1950er Jahre? Die DDR? Oder gar die Zeit davor?
Für El-Mafaalani dagegen ist klar: Deutschland erlebe die beste Zeit seiner Geschichte und zähle zu den beliebtesten Einwanderungsländern der Welt. Eine starke Wirtschaft, ein dynamischer Arbeitsmarkt, ein stabiler Rechtsstaat und eine vielfältige Kultur: Dieses positive Image strahle weltweit aus. Deutschland dürfte weiterhin ein Magnet für Einwanderer bleiben. Diesen Wandel gelte es zu gestalten. El-Mafaalanis Buch hilft, ihn zu verstehen.
Daniel Bax
© ifa - Kulturaustausch Heft 3+4/2018
Aladin El-Mafaalani: "Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, ISBN: 978-3-462-05164-3, 240 Seiten.