"Ich lebe nicht im Exil, ich lebe in Afrika"

In Nuruddin Farahs neuestem Roman "Links" kehrt der Protagonist nach zwanzigjährigem Exil in seine Heimat Somalia zurück. Er findet ein Land vor, das im Chaos zu versinken droht. Ilja Braun sprach mit Nuruddin Farah über sein neues Buch.

In Nuruddin Farahs neuestem Roman "Links" kehrt der Protagonist nach zwanzigjährigem Exil in seine Heimat Somalia zurück. Er findet ein Land vor, das im Chaos zu versinken droht, zerrissen von einem Bürgerkrieg. Ilja Braun traf Farah im November 2005 in Frankfurt und sprach mit ihm über sein neues Buch.

Nuruddin Farah; Foto: Samuel Shimon
Der in Kapstadt lebende Autor Nuruddin Farah gehört zu den bekanntesten Gegenwartsautoren Afrikas

​​Als Jeebleh, die Hauptfigur Ihres neuen Romans, nach Somalia zurückkehrt, fällt es ihm schwer, richtig einzuschätzen, wem er vertrauen kann und wem nicht. Warum ist das so schwierig für ihn?

Nuruddin Farah: Nun, er ist eine ganze Weile fort gewesen, und das Spiel, das vor Ort gespielt wird, ist nicht mehr dasselbe. Die Menschen sind Bündnisse eingegangen, die anderer Art sind als jene, die ihm vertraut waren, als er selbst noch in Mogadischu lebte. Der Bürgerkrieg kommt Leuten zugute, die andere Menschen gern in verschiedene Gruppen auseinander dividieren und von der neuen Situation profitieren wollen. Also bringt diese neue Situation offensichtlich neue Herausforderungen mit sich, erfordert eine neue Haltung.

Hat Jeebleh dadurch, dass er so lange im Westen gelebt hat, eine westliche oder nördliche Haltung adaptiert?

Farah: Nein, er weiß nur nicht mehr, was gespielt wird, er kennt die neuen Spielregeln nicht, aber er muss sie kennen lernen, denn sonst ist sein Leben in Gefahr. Das ist ein neues Phänomen, das der Bürgerkrieg mit sich gebracht hat; mit dem Westen hat das nichts zu tun. Vor zwanzig Jahren war das Clan-Denken politisch nicht relevant. Dass Menschen sich aufgrund ihrer Blutsverwandtschaft solidarisierten, war damals nicht üblich.

Persönliche Beziehungen waren wichtig, Freundschaften zählten sehr viel. Der Grund dafür, dass das Clandenken jetzt so an Bedeutung gewonnen hat, ist, dass viele Clan-Familien sich unter dem vorigen Regime benachteiligt fühlten und meinten, sie hätten nicht so viel Macht und Einfluss wie andere Familien. Der Bürgerkrieg hat jetzt Spannungen zum Ausbruch gebracht, die es vorher schon gab.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Clan und einer Familie?

Farah: Ein Clan ist eine Großfamilie. Wenn Ihr Nachname Braun ist, dann gehören in Somalia alle anderen Menschen, die ebenfalls Braun als Nachnamen haben, zu Ihrem Clan. Und wenn Sie Arbeitgeber sind und eine Stelle zu vergeben haben, werden Sie zunächst an diese Menschen denken. Sie schenken ihnen Ihr Vertrauen, laden sie zu sich nach Hause ein, pflegen gesellschaftlichen Umgang mit ihnen.

Und angenommen, die Brauns sind nun in irgendeiner Weise verwandt mit den Schmidts, einer anderen Familie, dann machen Sie sich auch mit diesen gemein. Darum geht es bei einem Clan, es ist eine große Familie, man denkt dabei an 50.000 oder gar 100.000 Menschen. Traditionellerweise leben diese Menschen auch im selben Gebiet, was bedeutet, dass die Bevölkerung eines Dorfes meist gemeinsame Vorfahren hat.

Aber Jeebleh ist nicht einverstanden damit, dass der Clan so viel Bedeutung hat.

Farah: Genau, er war früher schon nicht damit einverstanden, und heute ist er es ebenso wenig. Denn er ist der Ansicht, und da stimme ich voll und ganz mit ihm überein, dass man Menschen nicht privilegieren darf, bloß weil man mit ihnen blutsverwandt ist. Man sollte sie eher nach ihren Verdiensten beurteilen.

Wenn Sie einen neuen Außenminister ernennen sollen und sich dann für jemanden entscheiden, nur weil er aus Ihrem Dorf oder Ihrer Stadt kommt oder weil er Ihrem Clan angehört, dann machen Sie Ihre Arbeit nicht gut. Blut ist kein Prinzip, das Menschen eint – im Gegensatz zur Ideologie.

In "Links" scheint der politische Kontext deutlicher präsent zu sein als in Ihren früheren Büchern, jedenfalls deutlicher als in der letzten Trilogie.

Farah: Ein Bürgerkrieg ist für einen Schriftsteller ein sehr schwieriges Thema. Schon bei einer Demonstration mit nur hundert Teilnehmern, bei der es zu einem öffentlichen Aufruhr kommt, ist es für einen Schriftsteller schwierig, Einzelne zu identifizieren. An einem Bürgerkrieg sind aber ganze neun Millionen Menschen beteiligt. Wie pickt man sich da ein, zwei, meinetwegen eine Handvoll Figuren heraus, die die Geschichte erzählen, die erklären, wie es zu diesem Bürgerkrieg gekommen ist?

​​Denn man muss ja die Hintergründe erörtern. Man kommt nicht umhin zu fragen, warum wir Somalier uns zum ersten Mal in der Geschichte unseres Landes gegenseitig umbringen. Dabei muss man politische, historische, soziologische und noch viele andere Aspekte einbeziehen. Und dann ist dieses Buch ja auch noch der erste Teil einer Trilogie – im zweiten und dritten Teil wird es nicht mehr so viel Erklärungsbedarf geben.

Sie haben Somalia ziemlich früh in Ihrem Leben verlassen, um dann zunächst lange nicht zurückzukehren. Auch im Moment leben Sie ja im Exil ...

Farah: Nein, ich lebe nicht im Exil, ich lebe in Afrika. Und so lange ich in Afrika lebe, was ich inzwischen schon seit einigen Jahren tue, betrachte ich mich nicht als exiliert. Ich lebe vielleicht nicht in meinem eigenen Land, aber schließlich besuche ich Somalia auch ziemlich oft, zwei oder drei Mal im Jahr.

Hoffen Sie darauf, eines Tages dorthin zurückzukehren?

Farah: Ja, eines Tages, wenn wieder Frieden in dem Land herrscht und es Schulen gibt, auf die wir unsere Kinder schicken können ... Aber ich stehe auch nicht mehr allein, ich habe eine Familie. Ich werde also mit ihnen sprechen, und wenn wir uns darüber einig sind, werden wir vielleicht auch eines Tages nach Somalia ziehen. Ich bezweifle allerdings sehr, dass dies in naher Zukunft geschehen wird.

Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein, dass sich die Zentralregierung in Mogadischu ansiedelt?

Farah: Die Warlords, die die Stadt unter ihrer Kontrolle haben, profitieren von dem Bürgerkrieg, und so lange sie das tun, werden sie jeder föderativen Institution, die sich dort ansiedeln möchte, das Leben schwer machen. Aber irgendwann werden sie diesen Kampf verlieren, denn immer mehr Menschen wollen Frieden, und tatsächlich gibt es auch immer mehr Menschen, die wollen, dass die Zentralregierung sich in Mogadischu ansiedelt.

Es besteht auch die Sorge, dass sonst die islamistischen Fundamentalisten besser in der Stadt Fuß fassen. Es muss nun also schnell gehandelt werden, bevor Mogadischu von den Islamisten übernommen wird.

Ist der islamistische Fundamentalismus in Somalia derzeit eine einflussreiche Strömung?

Farah: Er könnte es werden, denn es gibt Bestrebungen, eine Alternative zum säkularen Staat zu verwirklichen. Ich selbst wurde als Muslim geboren und bin entsprechend aufgewachsen, aber ich glaube an den weltlichen Staat – ich bin überzeugt, dass die Religion von den Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten strikt getrennt bleiben sollte. Wenn die Islamisten in Mogadischu an Boden gewinnen, wird es die politische Lage des Landes zweifellos verkomplizieren.

Das Ende Ihres Romans ist trotz allem eher optimistisch.

Farah: Nun, in einer sehr schwierigen Situation kann man nur noch optimistisch sein. Man kann nur hoffen, dass man ganz unten angekommen ist und es nun wieder aufwärts geht.

Interview: Ilja Braun

© Qantara.de 2006

Nuruddin Farah: Links. Aus dem Englischen von A. Tanner, Verlag Suhrkamp, 368 Seiten, Euro 24,80

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Somalia
Stimmen aus der Diaspora
Die Analphabetenquote liegt in Somalia bei rund 75 Prozent. Dennoch hat das Land einen Autor hervorgebracht, der seit einiger Zeit für den Literaturnobelpreis im Gespräch ist. Ilja Braun stellt den Schriftsteller und seine Werke vor.

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Nuruddin Farah beim Verlag Suhrkamp