"Die gegenwärtige Mentalität muss sich ändern!"
Amin Farzanefar hat sich mit Yamina Bachir-Chouikh unterhalten.
"Rachida" ist das Regiedebut der 1954 geborenen Yamina Bachir-Chouikh. Die frühere Cutterin hat jedoch in der einen oder anderen Form bei vielen herausragenden Werken des maghrebinischen Kinos mitgewirkt: So z.B. beim Drehbuch für "Omar Gatlato" (1976, Merzak Allouache) sowie für "Vent de Sable" (1982, Mohamed Lakhdar-Hamina), in Zusammenarbeit mit Abdelkader Lagta und mit ihrem Mann, Mohammed Chouikh, einem der bekanntesten algerischen Filmemacher.
Sie haben bereits an vielen algerischen Filmen mitgearbeitet. Können Sie die historischen Etappen des algerischen Filmes skizzieren?
Yamina Bachir-Chouikh: Das algerische Kino hat während des Befreiungskampfes begonnen. Da gab es die verschiedensten Filme - Dokumentationen, aber auch ausländische Filmemacher, wie Renee Gaultier/Voutier. Nach der Unabhängigkeit existierte ein Kino - wenn auch nur ein staatlich kontrolliertes, wie in vielen sozialistischen Ländern. Es wurden viele Filme produziert, die aber alle ein mehr oder weniger ähnliches Thema hatten: den Befreiungskrieg, die Revolution und so weiter.
Später, als die Landreform durchgeführt wurde, wechselte die Thematik vom Befreiungskrieg zu den Bodenbesitzverhältnissen, zur Bedeutung des Landes. Aber nach wie vor betrachtete der Staat die Filmemacher mehr oder weniger als seine "Angestellten", die in ihren Filmen die staatliche Politik widerspiegeln sollten. Einige Regisseure versuchten, diese staatliche Zensur zu umschiffen, aber auch sie mussten Auftragsfilme machen, um auch andere Filme machen zu dürfen - was aber nicht heißen soll, dass es in dieser Phase nicht auch starke Filme gegeben hätte.
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre gab es den Übergang zu einem liberalen, bürgerlichen System - allerdings verbunden mit einer wirtschaftlichen Krise - und wer als erstes darunter zu leiden hatte, war das Kino. Kino braucht Geld: vorher hatte der Staat als Produzent die Mittel bereitgestellt. Und als das wegfiel, fehlte die Erfahrung der privaten Produktion. Viele Produktionsfirmen wurden geschlossen, die Regisseure und Techniker waren jetzt auf sich selber angewiesen.
Parallel zu dieser Wirtschaftskrise begann auch das Drama Algeriens, die Gewalt - auch gegen Kulturschaffende. Wenn es seit den 80er Jahren überhaupt noch Filme gegeben hat, dann dank einiger mutiger Regisseure, die ihr gesamtes persönliches Engagement darin investiert hatten, unter diesen Bedingungen Filme zu machen. Nachdem der Staat alles besetzt hatte, entwickelte sich langsam auch wieder eine Fördersystem. Das ging vom Kultusminister aus, es wurden einige Filme gemacht, aber dann war der Fond auch erschöpft.
Das algerische Fernsehen - das ja ein Staatsfernsehen ist – hat sich kaum ums Kino gekümmert. Erst in den letzten Jahren hat das Fernsehen ein bisschen dazu übergegangen ist, das Kino zu unterstützen. Aber selbst beide Quellen zusammen – die Fonds und das Fernsehen, reichen alle nicht aus, um Filmmaterial, Entwicklung, Schnitt, Vertonung usw. zu bezahlen. Das meiste kommt eben aus Europa.
Hätte der Staat denn einen kritischen Film - wie "Rachida" - überhaupt finanziert?
Bachir-Chouikh: Tatsächlich habe ich für meinen Film auch ausDer Film "Rachida"
Die junge Lehrerin Rachida wird von Terroristen angeschossen, als sie sich weigert, eine Bombe in einer Schule zu hinterlegen. Zusammen mit ihrer Mutter versucht sie, sich auf dem Land ein neues Leben aufzubauen. Doch auch dort sind die Spuren des Terrors allgegenwärtig – ebenso wie die des Überlebenswillen der einfachen Bevölkerung. dem staatlichen Fond Unterstützung bekommen. Es gibt eine Kommission, die über das Drehbuch entscheidet, diese Jury hat zugesagt, aber das Geld noch nicht geliefert, als wir den Dreh bereits begonnen hatten.
Also ist man auf internationale Koproduktionen angewiesen. Muss man dabei nicht auch Kompromisse eingehen?
Bachir-Chouikh: Nein, aus meiner eigenen Erfahrung heraus überhaupt nicht. Ich habe in Algerien - genau wie im Ausland auch - das gleiche Drehbuch eingereicht, und den Film ohne irgendeine Einmischung realisiert. Das hätte ich auch niemals akzeptiert.
Also die Wüste, durch die die Filmemacher gehen müssen, ist nicht die Zensur, ist nicht der Islamismus, sondern vor allem die finanzielle Not?
Bachir-Chouikh: Ja, das Geld! In Algerien gibt es überhaupt keine geregelte Zensur, man kann sagen und schreiben, was man will, die Zensur wirkt ökonomisch. Es fehlen einfach die Mittel, um die freie Meinungsäußerung auch zu verbreiten, deshalb muss man diese Mittel woanders suchen.
Inhaltlich haben einige algerischen Filme der letzten Jahre die Probleme der Mittelschicht behandelt, von Intellektuellen und Journalisten, die Probleme mit den Islamisten, mit dem Exil haben. Bei "Rachida" aber geht es um eine einfache Lehrerin. Worum geht es genau in dieser Geschichte?
Bachir-Chouikh: Ich bin von einem wirklichen Ereignis ausgegangen, wobei die Frau dort nicht überlebt hat. Ich wollte ihr aber die Gelegenheit geben, ihre Geschichte weiterzuerzählen, weiterzuleben. Tatsächlich wollte ich auch eine andere Geschichte erzählen, die der einfachen Leute.
Wenn bekannte Journalisten, Intellektuelle ermordet werden, steht ihr Name in der Zeitung - das zumindest! Aber jeden Tag sterben 10, 15 Leute, die keiner kennt. Ich wollte diese Leute aus der Anonymität herausholen, und ihren Tod und ihre Ermordung, die niemand sonst zur Kenntnis nimmt. Ich wollte ihnen ein Gesicht geben, um die Geschichte, die wir alle erleben, zu erzählen.
Ist das auch ein Grund dafür, dass Sie einen sehr einfachen, klaren und persönlichen Stil gewählt haben - obwohl Sie ja bei so vielen Filmen mitgewirkt haben, die sich sehr "formalistisch" oder komödiantisch darstellen?
Bachir-Chouikh: Jeder hat eben seine eigene Weise, mit Schmerz und Verlust umzugehen, und wenn es eine persönliche Neigung bei mir gegeben hat, war es die, den Blick dieser Frau wiederzugeben. Ich wollte auf ganz einfache Weise zeigen, wie meine Gesellschaft funktioniert und vibriert – mit ihren Farben, ihrer Poesie, aber auch mit ihren Schattenseiten, dem Horror.
Es scheint, dass sich dieser Terror bei ganz vielen anderen und kleineren Problemen bemerkbar macht, die wir gar nicht wahrnehmen.
Bachir-Chouikh: Genauso ist es! Es geht tiefer als das, was die Oberfläche zeigt. Nicht alle Algerier haben ja den Terrorismus empfunden, er betrifft nicht das ganze Land, nicht die ganze Geschichte. Mich interessiert, wie Leute, die aus ihrer ganz normalen Umgebung kommen - auch Kinder - plötzlich mit Gewalt konfrontiert werden und sich vielleicht auch für die Gewalt entscheiden. Es gibt alle möglichen Formen von Gewalt in der Gesellschaft - gegen Frauen, gegen Kinder und auch zwischen Männern - die dann weitere Gewalt erzeugen.
Können Sie mit einem Begriff wie "Islamismus" überhaupt etwas anfangen?
Bachir-Chouikh: Das ist ein von den Medien völlig aufgeblasener und aufgebauschter Begriff. Und deshalb begreift man nicht mehr, was damit eigentlich ausgedrückt werden soll. Islam, Muslime, Islamisten - alles wird in einen Topf geworfen.
Mir liegt anderes näher: mein Vater war ein gläubiger, bekennender Muslim - das war meine gesellschaftliche Umgebung, und genau das sagt mir etwas. Ich bin in dieser Kultur aufgewachsen - und die hat wunderbare Züge. Sie ist Teil der Menschheitsgeschichte, mit vielen Beiträgen zu dieser Geschichte.
Aber ich bin keine Theologin, und man müsste sich besser auskennen, um etwas Sinnvolles sagen zu können. Ansonsten bleibt es eine oberflächliche Etikettierung, die viele Menschen benutzen, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich meinen.
Die Täter in Ihrem Film sind nicht die üblichen Verdächtigen: Keine Klischee-behaftete, langbärtige Turbanträger, sondern scheinbar ganz gewöhnliche Jugendliche...
Bachir-Chouikh: Diese Klischees wollte ich ganz bewusst nicht bedienen, dass es bärtige, schmutzige, komische Leute sind, sondern die Jugendlichen von nebenan, die etwas in die Luft sprengen.
Schon in Ihrem ersten Drehbuch zum Film "Omar Gatlato" geht es um die vielen algerischen Jugendlichen, die orientierungslos herumhängen und ihre Zeit verschwenden. Sehen Sie die Jugendlichen aus dem Film "Rachida" in einer ganz ähnlichen Lage? Gibt es ein Jugendproblem in Algerien?
Bachir-Chouikh: Aber ja! Algerien ist eine sehr junge Gesellschaft, und man hat ganze Generationen der Hoffnungslosigkeit erzeugt – das soll keinesfalls pauschal die Hinwendung zum Terrorismus entschuldigen oder erklären. Aber man drückt genau diesen Jugendlichen die Waffen in die Hand. Man hat quasi zugelassen, dass sie den Abzug bedienen. Ich glaube aber, dass die Gewalt und der Terrorismus aus dem Gefühl der Ungerechtigkeit herrühren.
Dann müsste die Ungerechtigkeit in Algerien größer sein, als in Ägypten oder in Marokko, weil in Algerien die Gewalt größer ist.
Bachir-Chouikh: Das kann man so nicht sagen. Da gibt es sicher keinen Unterschied. Aber die Reaktion hängt immer auch mit der jeweiligen Mentalität der Leute zusammen und mit der Geschichte, die sie herumtragen. Algerien trägt eine bestimmte historische Last mit sich - eine Geschichte des Widerstandes gegen die Ungerechtigkeit und eine Geschichte von 130 Jahren Kolonialismus - was nicht wenig ist.
Man hat ja in Algerien gar nicht so schlecht gelebt wie in Ägypten oder Marokko! Die Leute waren wirtschaftlich besser gestellt, als in jenen Ländern, es gab niemanden, der auf der Strasse verhungert ist, es gab Schulpflicht, auch die Gesundheitsversorgung war frei – aber das allein reicht nicht aus.
Sie haben den Film "Rachida" vor zwei Jahren realisiert, und in dieser Zeit ist viel passiert. Wenn Sie jetzt zurückblicken, hat "Rachida" sich Ihnen in Teilen entfremdet oder betrachten Sie den Film aus einem anderen Blickwinkel?
Bachir-Chouikh: Der Terror ist nicht mehr derselbe! Zwar hat sich die soziale Lage oder das alltägliche Leben nicht verändert, die Mentalität auch nicht. Aber die Gewalt ist nicht mehr so allgegenwärtig wie ich es noch in dem Film zeige...
Was hoffen Sie für die Zukunft, sowohl für die Menschen auf dem Land, die Sie ja in Ihrem Film zeigen, als auch für die Menschen, die in der Stadt leben, wie Rachida?
Bachir-Chouikh: Man kann nicht mehr hoffen, als dass es eine bessere Zukunft gibt. Und die Gegenwart bestimmt das, was in der Zukunft passiert.
Das klingt etwas pessimistisch?
Bachir-Chouikh: Nein. Vielleicht bin ich mit zunehmendem Alter etwas weniger leidenschaftlich und zornig – aber ich habe viel Hoffnung. Ohne Hoffnung könnte ich keinen Film machen und würde mich auch nicht vier Jahre auf die Suche nach Geld machen.
Die Situation wird sich verändern, aber man kann Probleme, die über Jahrhunderte hinweg entstanden sind, nicht in drei oder vier Jahren verändern. Das braucht seine Zeit. Damit sich die Zukunft ändert muss sich die Mentalität in der Gegenwart ändern.
Interview: Amin Farzanefar
© Qantara.de 2005
Mehr Informationen über den Film "Rachida" finden Sie hier