Vermittlerin zwischen europäischer und islamischer Wissenskultur
In Europa ist die islamisch-theologische Fakultät in Sarajevo die bedeutendste Einrichtung höherer islamischer Ausbildung, Forschung und Lehre – eine Institution, die beweist, dass der Islam auch im Kontext moderner Wissenschaft funktioniert. Stefan Schreiner berichtet.
Als Stadt der islamischen Bildung und Wissenschaft hat sich Sarajevo spätestens seit dem 16. Jahrhundert in der islamischen Welt einen Namen gemacht und diesen bis heute behalten.
Nicht ohne Grund: Waren es in der Vergangenheit vor allem seine zeitweise bis zu zwölf (von insgesamt 70 bosnischen) "Medressen" (islamisch-theologischen Seminare), die zu Sarajevos Ruhm als Stadt der Bildung und Wissenschaft beigetragen haben, so ist es heute die islamisch-theologische Fakultät, die dafür sorgt, dass Sarajevo seinen Platz in der Welt der islamischen Wissenschaften weiterhin behält.
In Europa ist die islamisch-theologische Fakultät in Sarajevo nicht nur die älteste ihrer Art, sondern zugleich auch die bedeutendste Stätte höherer islamischer Bildung und Ausbildung, Forschung und Lehre.
Auch wenn sie in ihrer jetzigen Form erst 1977 von der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina gegründet worden ist, so reicht ihre Vorgeschichte im weiteren Sinne doch weit in die Vergangenheit zurück: bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und in die Frühzeit osmanischer Herrschaft über Bosnien.
Die Habsburger besetzen Bosnien und den Balkan
Wenn auch islamische Bildung und Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert in Sarajevo ihren festen Platz gehabt haben, ist die islamisch-theologische Fakultät dennoch im engeren Sinne erst ein Kind der durchgreifenden Veränderung der politischen und religionspolitischen Verhältnisse in Bosnien am Ende des 19. Jahrhunderts.
Dies geschah infolge der österreichisch-ungarischen Machtübernahme – insofern, als sie aus der unter österreichisch-ungarischer Verwaltung eingerichteten "Islamischen Hochschule für Theologie und Scharia-Recht" ("Viša islamska šerijatskoteološka škola") hervorging und sich heute wieder in dem einst dafür erbauten pseudomaurischen Palast am Rande der Altstadt von Sarajevo befindet.
Paragraph 25 des "Vertrags zwischen Großbritannien, Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Russland und der Türkei zur Regelung der Verhältnisse im Osten", wie der Titel der Schlussakte der Berliner Konferenz vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 zur Neuordnung der politischen und rechtlichen Verhältnisse auf dem Balkan nach dem Russisch-Türkischen Krieg von 1877 lautet, hatte der Habsburger Monarchie das Recht eingeräumt, Bosnien zu besetzen und seiner Verwaltung zu unterstellen.
Zu den einschneidenden Maßnahmen, die das neue Regime im Rahmen seiner Modernisierungspolitik einleitete, und damit zu den Herausforderungen, die die nunmehr unter nichtmuslimischer Herrschaft lebenden bosnischen Muslime zu bewältigen hatten, gehörte nicht zuletzt die Neuordnung ihres Bildungs- und Schulwesens.
Eine neue Hochschule für Scharia-Richter
Übernahm zwar die österreichisch-ungarische Verwaltung einerseits die traditionellen islamischen Elementar-"Mektebs" und höheren "Medressen" sowie sie säkularen osmanischen Schulen ("rushdiyyes"), so wurden andererseits neue Schulen und Schulformen eingeführt, und zwar solche, die aus einer Mischung von Elementen sowohl des europäischen als auch des islamischen Bildungssystems bestanden.
Die wichtigste und nachhaltigste dieser Neuerungen war ohne Zweifel die Einrichtung der sogenannten "mekteb-i nuwwab", der Hochschule für Scharia-Richter.
1887 eröffnet, hatte sie für die Ausbildung von Richtern ("kadis") und anderen islamischen Beamten zu sorgen, die für die Regelung der inneren Angelegenheiten der in Bosnien verbliebenen, nunmehr als Minderheit unter katholischer Oberherrschaft lebenden muslimischen Gemeinschaft zuständig waren.
Islamische Richter und Beamte, wie sie sich die österreichisch-ungarische Verwaltung ebenso wie die Führung der bosnischen Muslime jener Zeit vorstellte und wünschte, sollten sowohl in traditionellem Scharia-Recht als auch europäischem (österreichischem) Recht ausgewiesen sein.
Im Einklang zweier Bildungsmodelle
Mit der Einrichtung der Fakultät war erstens ein Modell einer europäischen Standards und Strukturen entsprechenden islamischen Fakultät geschaffen war, und zwar ein Modell, das zweitens traditionelle islamische und moderne europäische Bildung und Wissenschaft auf akademischen Niveau miteinander zu verbinden suchte und zu verbinden schaffte und auf diese Weise, drittens, Absolventen hervorbrachte, die islamische Gelehrte und europäische Intellektuelle zugleich waren.
Es waren eben diese Absolventen, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten das Gesicht des bosnischen Islams als eines europäischen Islams prägten und bis heute prägen.
Die mit der Einrichtung der "Islamischen Hochschule für Theologie und Scharia-Recht" durch muslimische Gelehrte und vor allem durch die islamische Gemeinschaft in Bosnien und ihren Repräsentanten getroffenen Grundentscheidungen haben sich auch in der Folgezeit mehrfach bewährt – nach dem Ende der österreichisch-ungarischen Herrschaft in der Zeit des jugoslawischen Königreichs ebenso wie unter kommunistischer Herrschaft.
Ein europäisches Unikum
Der Zerfall des vormaligen Jugoslawien und die Entstehung des unabhängigen Bosnien-Herzegowina brachte eine weitere Veränderung mit sich: Über das Universitätsgesetz von 1991 erkannte das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Bosnien-Herzegowinas die islamisch-theologische Fakultät als nunmehr universitäre Fakultät für islamische Studien an. Seit 29. September 2004 ist sie auch formal-rechtlich Teil der (staatlichen) Universität Sarajevo.
Damit ist die Fakultät für islamische Studien in Sarajevo europaweit die einzige islamisch-theologische Fakultät, die Teil einer staatlichen Universität ist und ihre Aufgaben dabei zugleich in enger Kooperation mit der islamischen Religionsgemeinschaft wahrnimmt.
Den Erfordernissen der islamischen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina entsprechend, ging damit auch eine Neuordnung der Studiengänge und die Erweiterung der Lehrangebote der Fakultät einher.
Ziel war es dabei, Studienangebote zu machen, die sowohl der islamischen Tradition entgegenkamen, als auch dem politischen Interesse Rechnung zu tragen, islamische Theologie im europäischen Kontext studieren zu können.
So bietet die Fakultät nicht mehr nur ein herkömmliches Curriculum in islamischer Theologie an, sondern seit 1992/93 auch einen pädagogisch-religionspädagogischen Lehrplan, um Religionslehrerinnen und Religionslehrer auszubilden, die fähig sind, an öffentlichen Schulen islamischen Religionsunterricht zu erteilen.
Dem politischen Interesse geschuldet ist übrigens auch die Aufnahme von Lehrveranstaltungen zum Thema Demokratie und Menschenrechte, die zum Pflichtteil der Curricula gehören.
Anerkennung in Europa und der islamischen Welt
Bei der Wahl der Lehrkräfte wurde neben den üblichen Qualitätsmerkmalen und Qualifikationsnachweisen besonderer Wert darauf gelegt, dass sie sowohl über einen qualifizierten Abschluss einer der bedeutenden islamischen Universitäten (z.B. Kairo, Medina, Teheran, Kuala Lumpur etc.), als auch über ein abgeschlossenes Studium an einer europäischen Universität verfügen, um auf diese Weise zu dokumentieren, dass islamisch-theologische Qualifikation und europäische wissenschaftliche Qualität keinesfalls im Widerspruch stehen.
Bei alledem legt die Fakultät großen Wert auf die Feststellung, dass sie bei aller Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber europäischen, theologischen Studienprogrammen in der islamischen Welt großes Ansehen genießt und keinem ihrer Lehrer jemals der Vorwurf der "bid'a", der unerlaubten Neuerung oder gar Häresie gemacht worden ist.
Im Gegenteil. Wie einst Muhammad 'Abduh den ägyptischen Behörden die Fakultät in Sarajevo als Modell einer neuen, reformorientierten islamischen Ausbildungsstätte empfehlen konnte, so unterhält sie heute mit der gleichen Selbstverständlichkeit beste Beziehungen zu den großen Universitäten in der islamischen Welt. Sie zieht heute Studierende nicht nur aus Bosnien-Herzegowina und seinen Nachbarländern an, sondern aus der gesamten Welt.
Wie sich die in der Tradition der großen islamischen Reformer stehenden bosnischen Muslime als "Europas Brücke zur islamischen Welt" verstehen, so sieht sich die Fakultät für Islamische Studien als Vermittlerin zwischen den europäischen und islamischen Wissenskulturen.
Wichtige Denkanstöße für Europa
Umso bedauerlicher ist daher, dass die Fakultät für Islamische Studien in der "westlichen Welt" bislang viel zu wenig wahrgenommen und gewürdigt wurde, ganz abgesehen davon, dass die meisten ihrer Lehrer, weithin unbekannt sind und deren Arbeiten gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit existieren.
Hier sollte schnellstens Abhilfe geschaffen werden. Und dies umso mehr, als im Kontext der in Deutschland geführten Diskussion um die Einrichtung islamisch-theologischer Studien und gegebenenfalls Fakultäten. Die Fakultät für Islamische Studien in Sarajevo könnte, wenn auch nicht das zu kopierende Muster, so doch zumindest wesentliche Denkanstöße hierfür geben.
Jedenfalls verdient sie es, weit intensiver wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Beweist sie doch, dass islamische Theologie auf gleichem europäischen universitären Niveau studiert werden kann wie christliche Theologien.
Stefan Schreiner
© Qantara.de 2009
Prof. Dr. Stefan Schreiner ist Professor für Judaistik und Religionswissenschaft (mit dem Schwerpunkt Islam) sowie Leiter des Institutum Judaicum an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Eine längere, ungekürzte Version des Beitrag ist erschienen in: W. Weiße (ed.), Theologie im Plural. Eine akademische Herausforderung, Münster / New York / München / Berlin 2009 (= Religionen im Dialog, Bd. 1), S. 41-48.
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