„Das ist nicht mehr mein Land“

Eine Person steht mit dem Rücken zur Kamera, sie trägt einen Regenschirm und hat eine Palästina-Flagge um die Schultern gelegt.
Trotz Regen und Repression: Viele Deutsch-Palästinenser sind im letzten Jahr auf die Straße gegangen, um für ihre Verwandten zu demonstrieren. Foto: picture alliance / PIC ONE | C. Ender

Der 7. Oktober 2023 war auch für Palästinenser in Deutschland eine Zäsur. Viele haben im vergangenen Jahr Angehörige in Gaza verloren – und auch das Vertrauen in deutsche Medien. Vier Erfahrungsberichte.

Von Inge Günther

An die 200.000 Menschen palästinensischer Herkunft leben in Deutschland, davon rund 40.000 in Berlin, mehr als in jeder anderen europäischen Großstadt. Viele sind längst eingebürgert, arbeiten in Krankenhäusern, Schulen, in gelernten und ungelernten Berufen. Manche kamen zum Studium nach Deutschland, andere als staatenlose Geflüchtete, oftmals über die DDR. 

So unterschiedlich ihre Biografien sind – das Palästinensischsein verbindet. Seit dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 und dem dadurch ausgelösten Gazakrieg mehr denn je. Gerade weil die deutsche Solidarität mit Israel und den Opfern des Angriffs oft mit anti-palästinensischen Ressentiments einherging.  

Dass arabischstämmige Migranten zur Feier des mörderischen Großangriffs auf Israel im Berliner Stadtteil Neukölln Süßigkeiten verteilten, löste zu Recht Empörung aus. Aber allzu leicht wurde Palästinenserinnen und Palästinensern pauschal Sympathisantentum für die Hamas unterstellt, teils wurde ihnen das Recht auf Protest gegen den Krieg, das Sterben und das Aushungern in Gaza verwehrt.

 

„Deutschland ist mir fremd geworden“

Mohamed Ibrahim (54), Berater für Entwicklungskooperation

„Früher“, sagt Mohamed Ibrahim, „habe ich mich als Deutsch-Palästinenser vorgestellt. Jetzt lasse ich das Deutsch lieber weg.“ Dabei ist der 54-jährige Familienvater, sportliche Figur, stoppelkurzes Haar, ein Musterexemplar gelungener Integration. Einer, der es als Flüchtlingsjunge geschafft hat, seinen eigenen Weg zu gehen. Und der heute neben seinem Beruf ein- bis zweimal pro Monat Workshops über Wissensvermittlung und Perspektivwechsel im Nahostkonflikt gibt. 

54-jährige Palästinenser, Berater für Entwicklungskooperation
Foto: Inge Günther

Ibrahims Eltern waren aus ihrem Heimatdorf am See Genezareth im heutigen Israel erst in den Libanon geflohen und später, 1974, mit dem kleinen Mohamed und drei Geschwistern über die DDR nach West-Berlin gekommen.  

16 Jahre lang lebten sie dort zu sechst in einem Flüchtlingsheim mit Gemeinschaftsklo und Gemeinschaftsküche. Wenn der Vater, ein Friseur, sonntags den Männern die Haare schnitt, wurde viel über Politik und Palästina, die verlorene Heimat, diskutiert. „Ich war ganz Ohr“, erinnert sich Ibrahim, aber oft habe er gedacht, „wie hat dieser Konflikt eigentlich begonnen? Und warum sind Juden nach Palästina eingewandert?“  

Seine Wissbegierde war groß. Als einer der wenigen aus dem Heim schaffte er die höhere Schule, studierte an der Freien Universität Berlin Politik mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Setzte sich mit der Geschichte des Judentums, dem Holocaust und deutscher Erinnerungskultur auseinander. Machte sich auch vor Ort, in Israel und Palästina, ein Bild vom Nahostkonflikt.  

Schließlich wurde er zum Trainer, der mit seinem jüdischen Freund Shemi Brennpunkt-Schulen in Berlin besuchte. Inzwischen arbeiten die beiden auch mit gemischten Gruppen aus jüdischen und muslimischen Studierenden, was Ibrahim besonders spannend findet. „Uns geht es darum, über den ‘Elefanten im Raum‘ zu reden“ – über islamophobe und antisemitische Vorurteile gegenüber den jeweils anderen.  

Ibrahims Verbindung zu Shemi ist seit dem Schwarzen Samstag im Oktober 2023 sogar enger als zuvor. Beide eint die Angst um die Zukunft ihrer Kinder. „Ich habe oft gedacht, ich kann jetzt nicht mehr. Shemi hat mir viel Kraft gegeben.“  

Aber Deutschland sei ihm fremd geworden. „Zu verbieten, uns mit den Opfern in Gaza zu solidarisieren, lässt uns Palästinensern keine Luft mehr.“ Nicht, dass er sich damit abfindet. Er hat selbst Mahnwachen angemeldet, mit Polizisten über Auflagen verhandelt und sich mit Politikern wie Gregor Gysi oder Michel Friedman ausgetauscht, wie sich das Scheitern von Integration verhindern lasse. Dennoch lässt ihn ein Gefühl nicht los: „Das ist nicht mehr mein Land.“ Allerdings hoffe er, schiebt Ibrahim nach, „dass ich mich täusche.“ 

 

„Ich konsumiere Nachrichten wie Luft“

Qassem Massri (39), Kinderarzt

Seinen Sommerurlaub wollte Qassem Massri in Gaza verbringen. Seine Erfahrung als Oberarzt in der Kinder-Intensiv-Abteilung eines Berliner Klinikums hätte dort Leben retten können. Die medizinische Versorgung in Gaza ist desaströs, die meisten Krankenhäuser sind zerstört, es mangelt an Medikamenten und Personal. 

Qassem Massri, 39-jährige Palästinenser, Kinderarzt
Foto: Inge Günther

Mit seinen Ringellocken sieht Massri aus wie einer, der mit Kindern gut kann. Schon mehrfach hat er sich für Einsätze in Gaza gemeldet. Zuletzt war er im April mit einem Ärzteteam 15 Tage vor Ort, um sich ein Bild von der Notlage zu verschaffen und zu helfen, wo immer er konnte. Damals war die Einreise noch über Rafah möglich. Aber den Grenzpunkt an der Grenze zwischen Ägypten und Gaza hat Israels Armee im Mai eingenommen.  

Rafah ist zu, und humanitären Organisationen bleiben nur noch israelische Grenzübergänge. Dafür ist grünes Licht von Cogat, einer militärischen Verwaltungsbehörde, nötig. Und die senkte in Massris Fall nach langem Hin und Her den Daumen.  

Vom Team des US-Hilfsverbands Rahma – insgesamt 25 Ärzte – durften am Ende nur fünf einreisen, wie Massri erfuhr. Er selbst sei wegen seiner palästinensischen Herkunft nicht darunter gewesen, so wie aus gleichem Grund insgesamt 20 Kollegen. „Das ist rassistische Politik“, findet Massri. Man möge sich vorstellen, jemand mit jüdischen Wurzeln würde ausgeschlossen. „Was das für einen Aufschrei gäbe!“  

Massri stammt aus dem nördlichen Gazastreifen. Mit 19 Jahren kam er zum Studium nach Berlin. Fünf Geschwister lebten bereits in Deutschland. Der Rest seiner weitläufigen Familie blieb in Gaza. Seit dem Krieg treibt ihn die Angst um sie um.  

Allein bei einem Bombenangriff seien 13 Verwandte umgekommen, erzählt Massri. Weitere Cousins starben bei anderen Angriffen. Seine Eltern und drei Schwestern haben bislang überlebt, aber mussten mehrfach fliehen. „Ich konsumiere Nachrichten wie Luft“, sagt er. „Die letzten zwölf Monate waren die schlimmste Zeit meines Lebens.“ 

Umso mehr haben ihn deutsche Medien erbittert, die nach seinen Worten „allein das israelische Narrativ übernehmen“. Demo-Verbote und Polizeigewalt seien hingegen „so gut wie kein Thema“. Massri unterstützt die Proteste gegen den Gazakrieg und auch die von „Palästina Spricht“ eingereichte Klage gegen die Bundesregierung wegen Waffenlieferungen an Israel.  

Das Handy klingelt. Massris Mutter aus Gaza ruft an. Der kurze Austausch mit ihr beschränkt auf das Wesentliche: „Wir leben noch“, sagt die Mutter. Massri atmet durch. Nur eines will er noch klarstellen: „Ich bin ideologisch weit entfernt von der Hamas.“ Aber er sehe sie als „Produkt von Besatzung und Unterdrückung. Am Ende des Tages bin ich in der Lage, mit Hamas-Leuten zu reden, mit denen ich aufgewachsen bin.“ 

 

„Ich kriege Morddrohungen, aber da muss man drüberstehen”

Nadija Samour (37), Rechtsanwältin 

In Berlins linker Szene gilt Nadija Samour aus dem Anwaltskollektiv im Haus der Demokratie als erste Adresse, wenn es um Palästina-Proteste geht. „Zu anderen Fällen komme ich gar nicht mehr“, sagt sie, eine zierliche Person mit kurzem Haar. Aktuell beschäftigen sie 120 laufende Verfahren: teils wegen des kontroversen Slogans „From the River to the Sea“, teils wegen klassischer Demonstrationsdelikte wie Widerstand bei Festnahmen oder Hausfriedensbruch im Zuge pro-palästinensischer Protestcamps an Berliner Unis.   

37-jährige Palästinenserin Nadija Samour, Rechtsanwältin
Foto: Inge Günther

„Die Strafbefehle betreffen Menschen querbeet, arabische, deutsche, auch jüdische“, berichtet Samour. In der Anfangszeit sei die Polizei schon eingeschritten, wenn der Terminus „Genozid“ bei Demos auftauchte. Inzwischen lasse man den durchgehen, zumal der Internationale Gerichtshof (IGH) den Verdachtsfall, in Gaza geschehe ein Genozid, für plausibel befand. Auch Pauschalverbote von Kundgebungen ließen sich versammlungsrechtlich nicht halten.  

Samours Motiv, Bürgerrechte zu verteidigen, hat viel mit ihrer Biografie zu tun. Als Kind palästinensischer Geflüchteter, die 1979 über Libanon nach Berlin kamen, habe sie oft miterlebt, wie „meine Eltern drangsaliert wurden. Ich wollte verstehen, wie das System funktioniert, damit wir uns gegen Willkür staatlicher Behörden schützen können. Die Anwaltschaft ist die Berufsgruppe, die das am besten kann.“  

Die Rechtslage allerdings ist mitunter kompliziert. Vor allem hinsichtlich des „River-Slogans“, so Samour, „gibt es bei den Oberverwaltungsgerichten ein Durcheinander“. In Mannheim etwa wurde der Spruch als rechtmäßig erachtet, andernorts als verfassungswidriges Symbol. Begründung: Es handele sich um ein Zitat aus der Charta der seit November mit einem Betätigungsverbot belegten Hamas. „Wirklich absurd“ findet Samour, dass sich die Rechtsauslegung immer nur auf den ersten Teil des Slogans „From the River to the Sea“ bezieht. Wie der Satz weitergeht, spiele keine Rolle, auch wenn es da Varianten gibt: von „Palestine will be Free“ bis zu „Peace will Make us Free“.  

Mit ihrem Einsatz hat sich Samour nicht nur Freunde gemacht. „Manchmal kriege ich Morddrohungen“, sagt sie. Auch wurde ihr Name auf dem Kanzleischild übersprüht. „Aber da muss man drüberstehen.“ 

 

„Geblieben ist meine Wut”

Amina Yunis (62), Kunstlehrerin*

Ihr kleines Atelier im fünften Stock eines Altbaus in Berlin-Kreuzberg ist ihr kreativer Ruhepol soweit Amina Yunis dazu noch kommt, neben ihrem Job an einer Berliner Grundschule und den Versuchen, ihre Verwandten aus Gaza rauszuholen. Was sich als „wahre Odyssee“ erwiesen hat, seufzt sie, Tochter einer biodeutschen Mutter und eines christlich-palästinensischen Vaters. 

Menschenmenge in Keffiyahs protestieren für die Rechte der Palästinenser
Foto: Inge Günther

Yunis sind beide Identitäten wichtig. „Ich bin Palästinenserin, aber auch Deutsche, aufgewachsen in der Generation Sühnezeichen“, sagt sie. „Natürlich haben mich die Geschehnisse vom 7. Oktober geschockt, aber geblieben ist meine Wut, dass die Öffentlichkeit, auch mein Umfeld, die Palästinenser oft nur noch als Täter wahrnimmt.“ Umso mehr, als sie immer versucht habe, „die Balance zu halten“. So wie ihr verstorbener Vater, der „die Ungerechtigkeiten erlebt hat, aber auch die Versöhnung gesucht hat“.  

Ihn hat Yunis erst richtig kennengelernt, als sie schon eine junge Frau war. Die Wege ihrer Eltern hatten sich in den sechziger Jahren getrennt, als er nach seinem Studium in Berlin in die USA ging. „Ich habe dort eine große, warmherzige Familie gefunden“, sagt sie. Seit 10/7 hat sich die Verbindung zu ihrer palästinensischen Verwandtschaft noch intensiviert, zu dem Teil in Kalifornien wie auch zu den Verwandten, die in Gaza-Stadt Zuflucht unter kirchlichem Dach gesucht haben, aber selbst dort nicht vor Raketeneinschlägen geschützt sind.  

Im Mai hätte es fast geklappt, ihre 17 Angehörigen aus Gaza rauszuholen. Alle hatten Visa für Länder erhalten, die zur Aufnahme palästinensischer Christen aus Gaza bereit waren, berichtet Yunis. 70.000 Euro habe der Familien- und Freundeskreis aufgebracht, um ihnen die Ausreise nach Ägypten zu „erkaufen“. Tausenden anderen war es so gelungen, der Hölle in Gaza zu entkommen. Doch am Tag vor der geplanten Ausreise hatte Israel den Grenzübergang in Rafah dichtgemacht.  

Der nächste Schlag folgte im Juni, als die ältere Tante an Sepsis starb, weil in Gaza keine Antibiotika zu bekommen waren. Yunis trug beim nächsten Straßenumzug der sogenannten „Grieving Doves“ (Trauertauben) in Berlin einen großen Flügel, bestehend aus Stoffstreifen mit den Namen von Kriegsopfern in Gaza. Ein Projekt, initiiert von Künstlerinnen in Berlin, um Opfer aus der Anonymität der Todesstatistiken zu holen. „Für mich war es ein Weg, um meine Tante zu trauern“, erzählt Yunis. Derweil ist die Verzweiflung ihrer in Gaza festsitzenden Verwandten noch gewachsen. Es gebe zwar jetzt ein israelisches Pilotprojekt, ein paar hundert Palästinenser:innen rauszubringen. Aber im Gegenzug verlange Israel eine Verzichtserklärung auf Rückkehr nach Gaza. Eine Entscheidung, die die Familie zerreißt, fürchtet Amina Yunis.  

* Name auf Bitte der Portraitierten geändert 

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