Die Stimme der Rohingya in Deutschland
Er trägt Turnschuhe, Jeans, Hemd und Jacket, dazu eine modische Brille. Er fällt nicht auf in der Masse der Menschen am Frankfurter Hauptbahnhof. Er könnte einer von vielen sein, die in der Stadt arbeiten, in einem Unternehmen vielleicht. Eine entsprechende Ausbildung jedenfalls hätte er. Rein äußerlich hat Nay San Lwin außer seiner Hautfarbe nichts gemeinsam mit den mehr als 400.000 Rohingya-Flüchtlingen aus Myanmar, die derzeit in überfüllten und vom Monsun durchweichten Notunterkünften im Grenzgebiet zu Myanmar und in Cox's Bazar, Bangladesch ausharren. Aber trotzdem ist er einer von ihnen.
Lwin wurde 1978 im nördlichen Rakhine-Staat geboren und wuchs in Rangun auf, der ehemaligen Hauptstadt des südostasiatischen Landes, das damals noch Burma hieß. An eine Zeit, in der er sich als Angehöriger der muslimischen Rohingya-Minderheit nicht als Mensch zweiter Klasse abgestempelt und ausgegrenzt fühlte, kann er sich nicht erinnern. Das habe praktisch immer zu seinem Alltag dazu gehört, sagt er. Verglichen mit jungen Rohingya heute war er trotzdem privilegiert: Er hatte noch Zugang zu einer staatlichen Universität, durfte dort studieren. Bleiben wollte er danach trotzdem nicht, er fühlte sich nicht willkommen in seiner Heimat.
Schon seit dem 8. Jahrhundert leben Rohingya in der Region, die heute im wesentlichen dem Rakhine-Staat im Westen Myanmars entspricht. In dem buddhistisch geprägten Land werden sie aber seit Langem diskriminiert. Seit dem Ende der 1970er Jahre - damals war Lwin ein Kleinkind - wurden bereits über eine Million Rohingya aus Myanmar vertrieben, die meisten flohen ins Nachbarland Bangladesch.
Seit 1982 sind die Rohingya zudem staatenlos. "Damals wurde das neue Staatsbürgerschaftsrecht eingeführt und neun ethnische Gruppen ausgeschlossen, darunter auch die Rohingya", erklärt Lwin. Die meisten dieser Gruppen seien Muslime gewesen. "Die Daingnet und die Marmagyi sehen äußerlich ähnlich aus wie die Rohingya, sind aber Buddhisten. Und sie wurden als ethnische Gruppen und als Staatsbürger anerkannt. Wir dagegen wurden aufgrund unserer Religion diskriminiert."
Seit 16 Jahren im Exil
Als Staatenloser, aber mit einem Abschluss in Informationstechnologie in der Tasche ging Nay San Lwin 2001 ins Ausland: Zunächst nach Saudi-Arabien, wo er als Betriebsleiter in einem Unternehmen arbeitete. Vor sechs Jahren dann beantragte er Asyl in Deutschland, wohnt seitdem hier. Myanmar hat er in dieser Zeit nicht mehr betreten, könnte es auch gar nicht.
"Seit 16 Jahren bin ich im Exil. Wenn ich jetzt einreisen würde, dann würde ich sofort festgenommen. Mein Leben wäre in Gefahr, ich käme ins Gefängnis, vielleicht würden sie mich sogar umbringen. Nein, ich kann nicht dorthin zurück."
Lwin lacht, während er das sagt. Aber es ist kein fröhliches Lachen. Und dass er Angst hat, das zeigt auch die Tatsache, dass er für unser Treffen auf einem neutralen Ort bestanden hat. Er möchte nicht preisgeben, wo er wohnt, möchte nirgendwo hingehen, wo man ihn kennen könnte. Denn Nay San Lwin weiß, dass er der Regierung im 9.000 Kilometer entfernten Myanmar ein Dorn im Auge ist. Zu offen engagiert er sich für die Rechte der Rohingya.
2005 hatte sein ebenfalls im Ausland lebender Vater einen Blog ins Leben gerufen, in dem er Gewalt an der muslimischen Minderheit dokumentierte und über Vertreibung, Diskriminierung und Unterdrückung schrieb. Lwin unterstützte ihn von Anfang an dabei, mittlerweile ist er selbst der Kopf hinter der Seite. Heute hat rohingyablogger.com rund zehn Millionen Besucher jährlich, erzählt er stolz. Die Website gibt es in zwei Versionen, auf Burmesisch und auch auf Englisch. Sein Blog werde international als Quelle benutzt, um an Informationen über die Lage der Rohingya zu kommen - auch und gerade in Zeiten wie diesen.
Ein Blog, eine Lebensaufgabe
"Ich habe ein Netzwerk aus über 100 Freiwilligen, die in verschiedenen Orten im Rakhine-Staat leben. Sie erstatten mir jeden Tag Bericht und schicken mir Bildmaterial zu, das ich dann über die sozialen Netzwerke und meinen Blog verbreite." Seine Kollegen würden alles vor der Veröffentlichung genau auf Echtheit überprüfen, sagt er. Unabhängig kontrollieren lässt sich das allerdings nicht. Es geht um Themen wie Folter, Vertreibung oder auch sexuellen Missbrauch. Alles sei an der Tagesordnung, sagt Lwin. Seine Stimme wird zum ersten und einzigen Mal während des Gesprächs lauter.
"Wenn ich die aktuellen Bilder sehe, vor allem die Kinder, dann muss ich weinen. Manchmal ist es kaum auszuhalten." Die Menschenmenge, die in den vergangenen Wochen mit wenig mehr als der Kleidung am Leib über die Grenze geflohen ist und jetzt in Bangladesch auf eine Zukunft hofft, von der niemand weiß, wie sie eigentlich aussehen könnte - das sind für ihn nicht nur namenlose Gesichter. "Diese Leute sind tagelang gelaufen, nur um ihr Leben zu retten. Es gibt Berichte, wonach im Rakhine-Staat kleine Kinder geköpft oder auch bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Und dann werden die Dörfer abgebrannt, damit keine Spuren übrig bleiben."
Eine Friedens-Ikone in der Kritik
Die Vereinten Nationen haben im Zusammenhang mit der Rohingya-Flüchtlingskrise schwere Vorwürfe gegen Myanmar erhoben und von einem "Paradebeispiel für ethnische Säuberung" gesprochen. Seit der Verschärfung der Krise Ende August und der Flucht Hunderttausender Rohingya war die internationale Kritik an der Führung Myanmars immer lauter geworden. Und mit ihr auch der Ruf nach Aung San Suu Kyi.
Die Staatsrätin und de-facto-Regierungschefin hatte sich lange bedeckt gehalten. Erst in der vergangenen Woche (19.09.) hatte sie sich schließlich erstmals öffentlich geäußert. In ihrer Rede verurteilte sie pauschal alle Menschenrechtsverletzungen im Rakhine-Staat. Menschenrechtler warfen ihr aber vor, zu vage und verharmlosend geblieben zu sein. "Sie schweigt noch immer zur Rolle der Sicherheitskräfte", kritisierte etwa Amnesty International.
Aktivist Nay San Lwin sieht das genauso: "Aung San Suu Kiy kontrolliert zwar nicht die Armee, aber sie hat eine moralische Autorität, sie ist Friedensnobelpreisträgerin und eine Ikone der Demokratie. Sie sieht doch, was gerade passiert: Dass die Leute fliehen."
Er fragt sich, was in ihr vorgeht, wenn sie die Bilder in den Medien verfolgt. "Sie ist ein Mensch, genau wie ich. Und als Mensch kann sie doch zumindest Mitgefühl zeigen. Wenn jemand in deiner Nähe in Not ist, dann hilfst du doch, ganz unabhängig von Religion oder ethnischer Herkunft."
Die schwierige Rolle der Rohingya-Rebellen
International hat die verzweifelte Lage der Rohingya viel Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft erfahren, auch in Deutschland, sagt Lwin. Das freut ihn zwar, aber am Problem an sich ändere sich dadurch noch nichts. Dieses Problem liege in Myanmar selbst. "Wir haben auf der Welt viele Freunde, nur in unserem eigenen Land haben wir gar keine. Myanmar ist für Rohingya wie ein Open-Air-Gefängnis. Sie können sich ohne offizielle Genehmigung nicht einmal von einem Ort zum anderen frei bewegen."
[embed:render:embedded:node:29069]Die hoffnungslose Lage, die Diskriminierung und Ausgrenzung im eigenen Land - diese Kombination hat nach Ansicht von Nay San Lwin auch mit dazu geführt, dass sich vermehrt junge Leute der sogenannten Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) angeschlossen haben. Kämpfer der ARSA hatten am 25. August Polizei- und Militärposten im Rakhine-Staat überfallen und Dutzende Sicherheitskräfte getötet, was die jüngste Krise und die Gegenoffensive der myanmarischen Armee auslöste.
Lwin heißt die Angriffe der ARSA nicht gut, ist aber der Meinung, dass daraus vor allem die Verzweiflung der seit Jahrzehnten leidenden Menschen spricht. "Es gibt unter den Rohingya viele junge Leute, die einfach keinerlei Zukunftsperspektiven haben. Sie können nicht studieren, können sich kein Geschäft aufbauen, können für keine Regierungsstelle arbeiten. Sie haben sich von der Internationalen Gemeinschaft Hilfe erwartet, aber niemand hat gegenüber der myanmarischen Regierung etwas unternommen." Aus diesem Grund hätten sich einige dazu entschlossen, zu den Waffen zu greifen und nicht mehr mit Worten zu kämpfen.
Auch soziale Netzwerke betroffen
"Die Armee soll diese Rebellen bekämpfen", sagt Lwin. "Aber seit Ende August wurden mehr als 4.000 Zivilisten getötet, das sind doch Unschuldige." Gegen die myanmarische Regierung erhebt er schwere Vorwürfe. "Sie hat langfristig den Plan, unsere ganze Bevölkerungsgruppe zu eliminieren. Und immer wenn sich eine Chance bietet, nutzt sie sie." Allein wird Myanmar den Konflikt nicht beilegen können, ist Lwin überzeugt. "Die einzige Lösung ist eine internationale Intervention, die Welt muss eingreifen. Die Verantwortlichen sollten vor den Internationalen Strafgerichtshof kommen."
Auch er selbst bekommt die Auswirkungen der aktuellen Krise zu spüren, sagt er. Wenn auch längst nicht in der Form wie die Rohingya vor Ort. Medienberichten zufolge lässt die Regierung Facebook-Posts von Aktivisten wie Lwin, die über Gräueltaten an den Rohingya schreiben, entfernen. Auch ganze Accounts sollen geblockt worden sein. Lwin bestätigt das - betroffen seien auch Autoren seines Blogs. "Facebook hat für Myanmar ein eigenes Team an Mitarbeitern. Diese Leute sind einseitig und voreingenommen. Sie arbeiten mehr für die Regierung und das Militär anstatt für Facebook."
Facebook selbst bestätigte die Sperrung einer Seite der ARSA. Der Internetkonzern betrachte die "Arakan Rohingya Salvation Army" als gewalttätige Gruppe, hieß es zur Begründung. Die Sperrung der Seite gehe nicht zurück auf einen Antrag der Regierung Myanmars.
Weit weg und doch so nah
Nay San Lwin hat sich an seinen Alltag in Deutschland gewöhnt. Er lernt die Sprache und arbeitet als Kurier. In seiner Freizeit bloggt er. Bis auf Onkel und Tante hat er keine enge Verwandtschaft mehr in Myanmar.
Seine Eltern leben in Großbritannien, die Geschwister in den USA. Trotzdem vermisst er seine Heimat. Wenn die Situation es zuließe, würde er gern zurückgehen, sagt er. "Niemand will doch fort von zu Hause. Da sind meine Wurzeln."
In Deutschland wurde er problemlos als Flüchtling anerkannt und hat jetzt einen sogenannten "Blauen Pass", auch Konventionspass genannt. Dieser Reiseausweis für Flüchtlinge ist ein Ersatz für den Reisepass des Landes, aus dem der Betroffene ursprünglich geflohen ist. Mit dem Dokument kann Lwin in viele EU-Länder ohne Visum reisen. Das sei toll und ein großes Privileg, findet er. Noch lieber allerdings hätte er einen anderen Pass: den myanmarischen. Er wünscht sich, endlich Staatsbürger zu sein. In seiner Heimat.
Esther Felden
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