Bauherr der Zukunft

"Choreograph der Buchstaben" wird der tunesische Kalligraph Nja Mahdaoui gerne genannt – dabei ist er streng genommen kein Kalligraph. Und die Zeichen, die seine Werke ausmachen, sind auch keine Buchstaben. Von Sarah Mersch

الكاتبة ، الكاتب: Sarah Mersch

"Bildender Künstler trifft es vielleicht noch am ehesten" antworte Nja Mahdaoui lächelnd auf die Frage, wie er sich selbst definieren würde. Inspiriert ist seine Arbeit von der arabischen Kalligraphie, doch die Zeichen, die er zu Papier, auf Teppiche, Flugzeuge und ganze Gebäudekomplexe bringt, sind keine realen Schriftzeichen. Abstrakte Formen finden sich zu rhythmischen Kompositionen zusammen, einzelne Buchstaben legen sich verschlungen auf Papier, ohne jemals einen sprachlichen Sinn zu ergeben.

Die Abstraktion der religiös aufgeladenen Schrift versteht Mahdaoui keinesfalls als Sakrileg. "Diese Abstrahierung wird von all jenen toleriert, die wissen, dass es schon in der Vergangenheit Schulen gab, die abstrahiert haben."

Flugzeug aus der Flotte von Gulf Air; Foto: © Nja Mahdaoui
Stets auf der Suche nach neuen Techniken und Herausforderungen: Für Gulf Air entwarf Mahdaoui Designs, die nun vier Maschinen der Fluggesellschaft zieren

​​Deshalb mache er den Unterschied zwischen einem Kopisten, der perfekt reproduziert, was vor hunderten von Jahren gemacht wurde, und jemandem wie ihm, "der die Buchstaben als Basis, als Struktur versteht, in ihrer Noblesse, nicht im Sinne eines engstirnigen Kulturbegriffs."

Eine deutsch-tunesische Kooperation

Ganz wesentlich für seine Arbeit sei der Austausch mit Künstlern aus dem Ausland. 1937 in Tunis geboren studiert Mahdaoui in Rom und Paris. Nach dem Studium kehrt er nach Tunis zurück, bleibt aber im ständigen Kontakt mit anderen Malern und bildenden Künstlern.

Über mehrere Jahre arbeitet er mit dem deutschen Aquarell-Maler und Papierkünstler Wolfgang Heuwinkel zusammen – ein Austausch, der Mahdaoui nachhaltig geprägt hat. Heuwinkel bearbeitete Papierbögen, bemalte und zerriss sie, bevor er sie von Bergisch-Gladbach nach Tunis schickte.

Nja Mahdaoui arbeitete mit diesen Bögen weiter. Über Jahre kommunizierten sie nur über Distanz, bis sie sich schließlich darauf einließen, gleichzeitig an einem Werk zu arbeiten. "Wir hatten einen enormen Bogen Papier, jeder hat an einer Seite angefangen", erzählt Mahdaoui. Doch er bricht die Arbeit ab, als Heuwinkel anfängt, das Papier zu reißen. "Das war ein physischer Schock, dieses Geräusch zu hören." Noch mehr als 15 Jahre später scheint es Mahdaoui kalt den Rücken herunterzulaufen, wenn er an daran denkt.

Auf der Suche nach Innovationen

Doch der Tunesier ist immer noch auf der Suche nach Innovationen, neuen Techniken und Materialien. 1990 entwirft er das Design der neuen Flotte von Gulf Air, im vergangenen Jahr arbeitet er in der Manufaktur von Meissen das erste Mal auf Porzellan. "Das war etwas ganz neues und spannendes für mich. Ich musste bei null anfangen, denn die Farben und Arbeitsgeräte sind ganz anders."

Nja Mahdaoui; Foto: © Nja Mahdaoui
Choreograph der Buchstaben: Nja Mahdaoui gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler Tunesiens und der Maghreb-Region.

​​Mahdaoui zieht sein Smartphone aus der Tasche, um Fotos einer ganz besonderen Arbeit von ihm zu zeigen. Als eines der größten Projekte der letzten Jahre gestaltete er eine Moschee – sie steht in Saudi Arabien, auf dem hochmodernen Campus der König-Abdullah-Universität für Wissenschaft und Technologie. Ein rechteckiges, beinahe spartanisches Minarett ragt über einen ebenso einfach anmutenden Bau. Abstrakte Schriftzeichen aus Metall legen sich über ein großes Fenster, das den Blick auf den Gebetssaal freigibt, auf dessen Boden Mahdaouis Zeichen ihr Schattenspiel treiben.

Wenn er von diesem Projekt erzählt, scheint der Künstler noch immer etwas verwundert, dass es ausgerechnet in dem streng religiösen Saudi-Arabien möglich war, dieses Werk zu verwirklichen.

Dabei ist der Respekt der Tradition für Mahdaoui selbstverständlich, oft ist sie gar Inspirationsquelle. In vielen seiner Werke arbeitet er mit traditionellem tunesischen Kunsthandwerk: Trommeln, Seidenstoffen, Teppichen. "Aber man darf sie nicht einfach nur reproduzieren. Das wäre ein gesellschaftlicher und intellektueller Suizid", insistiert er und schlägt elegant den Bogen zwischen Kunst und der politischen Situation in seinem Heimatland.

Vitaler Austausch mit anderen Kulturen

"Wir müssen einen kritischen Blick darauf werfen, welche Elemente und Strukturen in der Lage sind, heute weiterzuleben und unsere Zukunft zu gestalten." Nur der Austausch mit anderen Kulturen könne Tunesien voran bringen, "alles andere führt ins innere Exil und zur Selbstzerstörung einer ganzen Gesellschaft."

Gebetssaal der Moschee auf dem Campus der König-Abdullah-Universität; Foto: © Nja Mahdaoui
Kaligraphisches Schattenspiel beim Gebet: Selbst im streng religiösen Saudi-Arabien konnte der Künstler sein Werke verwirklichen

​​Mahdaoui verfolgt sehr genau und mit kritischer Distanz die aktuelle Situation in Tunesien. Einfluss auf seine Arbeit hätten die politischen Ereignisse aber nicht, und den Begriff Revolution lehnt er ab. Bei jungen Künstlern hätte die neugewonnene Freiheit sicherlich dazu geführt, dass sie sich trauen, Tabus anzuschneiden.

Doch seine eigenen Arbeiten, auf den ersten Blick abstrakt und unpolitisch, in ihrer Philosophie aber modernistisch, würden von den Umwälzungen in Tunesien nicht beeinflusst.

Wenn Mahdaoui erzählt, changieren seine Aussagen subtil zwischen kultureller und politischer Analyse. Ein befreundeter Schriftsteller hätte den passenden Ausdruck gefunden: die Rückwärtsgewandten, die sich gegen eine Modernisierung der Gesellschaft stellen, "das sind die Bauherren der Ruinen. Ruinen sind ein Zeugnis der Vergangenheit. Wir müssen die Zukunft errichten." Und das meint Nja Mahdaoui sowohl künstlerisch als auch politisch.

Sarah Mersch

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/ Qantara.de