Diktat des Feudalismus

Wer sich hierzulande mit Pakistan beschäftigt, verbindet mit dem Land meist nur die unheilvolle Machtverquickung von Militär und Politik. Doch reist man vor Ort umher, stößt man recht schnell auf eine dritte Säule der Macht innerhalb der pakistanischen Gesellschaft: den Feudalismus. Großgrundbesitzer, sogenannte Zamindars, haben fast gottgleiche Rechte über Land und Menschen gleichermaßen. Dass daraus auch politische Einflussnahme folgt, muss wohl nicht zusätzlich erwähnt werden. Wer also Pakistan verstehen will, sollte auch den Feudalismus verstehen.
Daniyal Mueenuddins Erzählband "Andere Räume, andere Träume" eröffnet insofern unbekannte Einblicke in eine unbekannte Welt. Denn Mueenuddins Geschichten, angesiedelt zwischen den späten 1970er Jahren und der Zeit nach 9/11, kreisen allesamt – mal aus der Ferne, mal aus nächster Nähe – um den Großgrundbesitzer K. K. Harouni, der Ländereien und Farmen zwischen Multan und Lahore besitzt. Harouni selbst steht jedoch nicht im Mittelpunkt.
Mueenuddin – Sohn eines pakistanischen Politikers und selbst Betreiber einer kleinen Farm im Punjab – konzentriert sich vielmehr auf die ihn umgebende Dienerschaft: Gärtner, Fahrer, Köche, Manager. An ihnen spiegelt er das dialektische Verhältnis von Herr und Knecht. Harounis Macht ist zwar unwidersprochen. Doch seine Untergebenen bereichern sich an ihm nach Strich und Faden: Nawabdin, der Elektriker, zapft wie ein Zauberer den Strom ab, wo er nur kann; Jaglani, der gewiefteste unter Harounis Verwaltern, eignet sich jene Landstücke seines Herrn an, die er eigentlich Profit bringend veräußern soll.
Diktat des Feudalismus
Es ist eine Welt, in der das Haben das Sein bestimmt – und die Wünsche diktiert. Denn sei es Harouni, seien es die Verwalter, seien es die kleinen Bediensteten am unteren Ende der Hierarchie – alle sind auf der Suche nach dem Glück.
Und für sie alle geht diese Suche gleichermaßen schlecht aus: Harouni verliebt sich auf seine alten Tage in ein junges mittelloses Mädchen aus der Verwandtschaft – doch dann überrascht ihn der Tod. Rezak, ein alter einfacher Mann aus den Bergen, wird im Haushalt von Harounis Sohn eingestellt; vom Lohn kauft er sich zwei Ziegen und eine junge Frau. Als diese verschwindet, wird er von der Polizei gefoltert – und er erkennt, dass er verlangt hat nach dem, was ihm nicht zusteht.
Auch das ist Feudalismus: Schutz durch Abhängigkeit – Abhängigkeit durch Schutz in einer Welt, in der die Regeln für alle, auch für einen Harouni, letztlich fest geschrieben sind.
Die Liebe als Geschäft
In vielen der Geschichten stehen die Frauen im Vordergrund – nicht umsonst ist dem Erzählband ein Sprichwort aus dem Punjab voran gestellt, das besagt: "Drei Dinge, für die wir töten: Land, Frauen und Gold". Frauen gelten bis heute in vielen ländlichen, was zugleich auch heißt traditionell bis archaisch geprägten Gegenden Pakistans als Besitz. Sie sind auch bei Mueenuddin diejenigen, die am wenigsten in den Händen haben – literarisch aber am meisten ergreifen. Die Liebe ist für sie ein Geschäft, mit dem sie versuchen, sich den Platz in einem besseren Leben zu erkaufen.
Saleema etwa in der gleichnamigen Geschichte, ihr Leben lang missbraucht und benutzt, hofft im gütigen alternden Rafik, der seit über 50 Jahren in einem der Anwesen Harounis dient, einen Schutzstern zu finden. Doch auch Rafik, von dem sie ein Kind bekommt, wird sich von ihr abwenden – Saleema landet auf der Straße, ihr Sohn wird einer der vielen 'Spatzen von Lahore': ein Bettelkind.
Lily wiederum hat ihr Leben in Lahore als reiches Partygirl mit endlosen durchtanzten Nächten und Affären satt. Durch ihre Heirat mit Murad Talwan, der abgeschieden von der Stadt in Dunyapur eine kleine Farm betreibt, erhofft sie ihr besseres Ich zu verwirklichen. Doch rasch muss sie erkennen: Ihre Rolle als Ehefrau ist mehr oder weniger fest gelegt – auf die reiche aber unbefriedigte Frau, die gerade deshalb Schuld auf sich laden wird.
Dem Untergang geweiht
Doch so unabänderlich die Rollen auch scheinen: Letztlich porträtiert Mueenuddin, der seine eigene Farm selbst eher als Business betreibt statt im Stil der alten Oligarchen, diese Welt des Feudalismus als eine dem Untergang geweihte Welt. Zukunft – das macht er unmissverständlich klar – hat sie nur, wo sie sich wandelt: und das nur durch Männer wie etwa Murad Talwan oder Sohail Harouni, die westliche Bildung und liberale Ansichten mit Liebe zu ihrer Herkunft zu vereinen wissen.
Von dieser Liebe zum Land künden die Erzählungen – mehrfach preisgekrönt und in über 14 Sprachen übersetzt – auf jeder Seite. Man riecht und schmeckt und sieht. Vor allem aber zaubert Mueenuddin – 1963 in Los Angeles geboren, jedoch aufgewachsen in Pakistan – Menschen aus Fleisch und Blut vor uns hin, aus einer Welt, die uns fremd sein müsste, uns aber plötzlich ganz nahe erscheint.
Der boomenden pakistanischen Gegenwartsliteratur in Englisch fügt dieser Band – mit ebenbürtiger Eleganz ins Deutsche übertragen von Brigitte Heinrich – eine ganz eigene Note hinzu.
Claudia Kramatschek
© Qantara.de 2010
Daniyal Mueenuddin: Andere Räume, andere Träume. Berlin: Suhrkamp 2010, 289 S.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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