"Wir übersetzen keine Bahnhofshallenliteratur"
Es gibt 250 Millionen potentielle Leser für arabische Bücher, trotzdem wird nur wenig übersetzt. Kalima beispielsweise bringt Erstauflagen von 2000 Stück auf den Markt. Lesen die Araber nicht gerne?
Mustafa al-Slaiman: Doch, natürlich lesen die Araber und deshalb übersetzen wir. Die elektronische Medien und der Fernseher haben zwar immens viel Macht, aber solche lesefeindlichen Bedingungen gibt es überall. Das gravierende Problem ist der arabische Buchmarkt. Erstens der Vertrieb: Man kann nicht im Internet bestellen, weil es in der Regel keine vernünftigen Postanschriften mit Straßennamen gibt. Dieses Problem wurde mir auch beim Erwerb der Übersetzungsrechte bewusst. In Deutschland sind Postfächer bei Lizenzverträgen inakzeptabel, aber man kann ja auch nicht angeben "In der kleinen Straße gegenüber der Moschee, dort, wo der Gemüseladen ist". Außerdem fehlen in der gesamten arabischen Welt gute Buchhandlungen - man kann sie an einer Hand abzählen.
"Atemschaukel" von Herta Müller ist pünktlich zur Verleihung des Nobelpreises auf Arabisch erschienen. Da hatten Sie ja ein glückliches Händchen bei der Auswahl.
Al-Slaiman: Bei der Erstellung der Literaturliste standen mir einige Freunde bei, von denen ich den einen oder anderen Rat erhalten habe. Michael Maar steht an erster Stelle, aber mir halfen auch andere Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Der Präsident der Akademie Klaus Reichert oder Gustav Seibt sowie die Kinderbuchautorin Ute Krause haben mich unterstützt.
Bei den 100 Titeln, die zunächst aus dem Deutschen übersetzt werden sollen, fällt auf, dass die Klassiker komplett fehlen.
Al-Slaiman: Früher neigte man dazu, nur Klassiker zu übersetzen und hat die junge Generation vergessen. Die Rechte waren eben frei oder sehr günstig, und über die Klassiker wird viel geredet. Aber man tat so, als gäbe es keine neuere deutsche Literatur. Diese Lücke soll geschlossen werden.
Goethe, Lessing und Schiller gibt es also längst auf Arabisch?
Al-Slaiman: Es gibt Übertragungen aus dem Deutschen und aus Relaissprachen wie Englisch oder Französisch. Irgendwann bräuchten wir sicherlich eine Neuübersetzung aus der Originalsprache, aber jetzt sollte man die Klassiker in Ruhe lassen. Dafür ist Zeit und Forschung nötig. Eine Neu-Übersetzung muss begründet und kommentiert werden, so wie zum Beispiel Klaus Reichert mit dem Hohelied Salomons verfahren ist.
Auf Ihrer Liste steht Daniel Kehlmann neben Christa Wolf oder Otfried Preußler. Nach welchen Kriterien haben Sie Titel ausgesucht?
Al-Slaiman: Qualität steht ganz weit oben. Wir übersetzen keine Bahnhofshallenliteratur. Außerdem wollen wir nicht nur Romane und Lyrik, sondern alle Gattungen berücksichtigen. Wir wollen dem arabischen Leser auch zeigen, wie Literaturkritiker über die deutsche Literatur schreiben, deshalb haben wir Sachbücher wie Michael Maars "Leoparden im Tempel" oder Burkhard Müllers "Lufthunde" ausgesucht. Philosophie und Religion sind zwei weitere wichtige Bereiche.
Mehr als die Hälfte der fertigen Titel sind Kinder- und Jugendbücher. Ist das ein Versuch, der Zensur aus dem Weg zu gehen?
Al-Slaiman: Nein, wir haben in diesem Bereich einen sehr starken Nachholbedarf. Die Kinder- und Jugendliteratur in der arabischen Welt ist katastrophal. Es gibt sehr viele ideologische und religiös gesinnte Bücher, aber wenig Kindgerechtes. Die Lust am Lesen muss man im Kindesalter entwickeln. Wir wollen den Kindern Bücher anbieten, die für sie geschrieben werden, dann werden sie vielleicht später engagierte Leser.
Durften die Kalima-Titel bisher in allen arabischen Ländern verkauft werden?
Al-Slaiman: Es gibt Bücher und Texte, die kritisch gegenüber der Politik der Vereinigten Arabischen Emirate sind. Und trotzdem werden diese Bücher veröffentlicht und auf der Buchmesse in Abu Dhabi ohne Zensur vorgestellt.
Haben Sie bei der Auswahl manchmal eine Schere im Kopf?
Al-Slaiman: Nein, nicht im Geringsten. Wir veröffentlichen viele Themen, die man nicht unbedingt in der arabischen Welt erwartet. Bei "Atemschaukel" erkennt man schon auf der ersten Seite, dass die Hauptfigur ein homosexueller Mensch ist. Oder Religionskritik. In Elias Canettis "Die Fliegenpein" gibt es eine Stelle, da heißt es, Gott sei erst am Entstehen, er habe die Welt nicht erschaffen, sondern sei ihr Erbe. Nicht jeder Muslim ist damit einverstanden. Der zweite Lektor wollte deshalb einen Absatz weglassen. Wir diskutierten darüber - und die Stelle blieb. Manchmal sorgen sich die Autoren selbst am meisten. Emine Özdamar schlug einmal vor, eine Stelle in "Das Leben ist eine Karawanserei" zu streichen, in der jemand auf dem Klo sitzt und Gott beschimpft. Der arabische Verleger sah dafür keinen Grund, er sagte, so stehe es doch im Original.
Jede Sprache ist eng mit ihrer Kultur verknüpft; Wörter sind vielschichtig konnotiert, manchmal stehen ganze kulturelle Konzepte hinter ihnen. Wann müssen Sie im Arabischen besonders lange nach einer passenden Übersetzung suchen?
Al-Slaiman: In einem von Ute Krauses Kinderbüchern war ein Schwein die Hauptfigur. Schweine spiele in der orientalischen Literatur keine Rolle, auch nicht bei Christen und Juden. Sie sind im Alltag nicht präsent. Wir haben die Figur gemeinsam mit Ute Krause in einen Esel umgewandelt, aber ihre Eigenschaften belassen. Die Bilder wurden etwas geändert - das war ein Tribut an die arabischen Leser. Sonst hätten wir dem Buch von vornherein Möglichkeiten verschlossen. Eltern würden solche Bücher nicht kaufen.
Wie gehen Sie mit Namen um? Geht nicht gerade bei Kinderbüchern einiges verloren, wenn zum Beispiel der Räuber Hotzenplotz auf Arabisch Hotzenplotz heißt?
Al-Slaiman: Damit beschäftige ich mich tatsächlich viel. Wir haben in einigen Fällen versucht, Eigenschaften zu übertragen. Bei Peter Härtlings Hirbel hat man im Deutschen ein bisschen eine Vorstellung von dem Jungen durch seinen Namen. Wir haben auf die ägyptische Umgangssprache zurückgegriffen und ihn Schakawa genannt. Jeder kennt das aus Filmen oder Zeitungen, das heißt armer, geknebelter, elender Knabe. Im Räuber Hotzenplotz gibt es auch einen Hausmeister, der zu viel Apfelwein trinkt. Das ist nicht geläufig, aber ich habe in einem alten Buch den Namen Dabus gefunden, und sofort versteht jeder, dass es um eine aggressive Person geht, der ein unangenehmer Geruch anhaftet.
Können die linguistischen Hürden so hoch sein, dass eine Übersetzung unmöglich wird?
Al-Slaiman: Jeder Text hat seine Eigenarten, mit denen man sich anfreunden muss. "Diana" von Joachim Sartorius war ein solcher Text, ein Liebesgedicht. Da heißt es: "Ich habe den Rücken der Welt im Wasser gesehen." Der Rücken als Ganzes ist in der arabischen Literatur unerotisch. Die Schulter oder der Fuß sind wesentlich erotischer. Nur anschauen oder den Blick sogar etwas zurücknehmen klingt in der arabischen Poesie verführerischer als anfassen. Das sind Details, aber wenn man "Diana" wörtlich übersetzt, bleibt nichts mehr von der Erotik. Umgekehrt gilt das wohl auch - für das Gefühl deutscher Leser ist arabische Lyrik oft kitschig.
Al-Slaiman: Man muss als Übersetzer arbeiten, bis ein Gedicht in der Zielsprachkultur ankommt, gerade bei sehr guten Dichtern. Die deutsche Sprache ist spätestens seit Brecht etwas trockener geworden, ärmer an Metaphorik. Arabisch ist wie Russisch oder romanische Sprachen wesentlich bildreicher. Übersetzen ist deshalb auch ein kreativer Akt. Die lyrische arabische Rose soll auch in einer deutschen Übersetzung duften.
Interview: Silke Lode
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Redakteurin: Nimet Seker/Qantara.de
Mustafa al-Slaiman ist der deutsche Chefübersetzer von Kalima und unterrichtet Simultandolmetschen am Fachbereich für Translationswissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim.