Aufruf arabischer Intellektueller zeugt von Ignoranz
"Wie können wir einen pubertierenden Jugendlichen, der unter dem Einfluss der höllischen nationalsozialistischen Propaganda stand, für ein Verhalten verantwortlich machen, das keine freie Wahl zuließ?", schreiben die Unterzeichner des Solidaritätsbriefes. Sie sehen in dem Geständnis von Grass, zur Waffen-SS gehört zu haben, ein Zeichen des Mutes, das Respekt und Anerkennung verdiene.
Die Kritik an Grass wird als Kampagne gedeutet, vorgeblich mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit von den Verbrechen Israels in Palästina und Libanon abzulenken. Die Israelis werden als "Neonazis" bezeichnet, die, "die Palästinenser und Libanesen töten, ihre Länder zerstören, um sie Trennmauern errichten und sie in Lager stecken".
Zu den Unterzeichnern gehören prominente Namen wie der ägyptische Romancier und Kulturjournalist Gamal al-Ghitani, der Direktor des Supreme Council of Culture in Ägypten, Jabir Asfur, der bahrainische Dichter Qasim Haddad oder der marokkanische Dichter Mohamed Bennis.
Unkenntnis in der Debatte
Arabische Medien berichteten in den letzten Wochen immer wieder über die in Deutschland laufende Diskussion um Günter Grass. Meistens gaben die Berichte die verschiedenen Positionen in der Diskussion wieder. Einige Kommentatoren drückten aber auch ihr Unverständnis über die Verurteilung von Grass aus.
Abdalwahid Khalid al-Hamid beispielsweise schreibt in der saudi-arabischen Tageszeitung ar-Riyadh, er sei davon überzeugt, dass alle Fehler von Intellektuellen verziehen werden, außer Antisemitismus und die Nähe zum Nationalsozialismus.
Nur sehr wenige arabische Kommentatoren nahmen die Debatte um Grass zum Anlass, die arabischen Intellektuellen aufzufordern, sich mit der eigenen Vergangenheit kritisch auseinander zu setzen.
In der Internetzeitung Elaph schreibt Samir Tahir: "Ich habe von keinem einzigen irakischen Intellektuellen gehört, der sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, entschlossen hätte, seine Unterstützung für das frühere blutige Regime im Irak zuzugeben. Keine einzige großmütige Seele entschloss sich, die eigene Schwäche zu gestehen. Wenn es nur einmal geschähe, würde dies den Morast der arabischen Kultur in Bewegung bringen".
Das Kommuniqué offenbart die Unkenntnis der Beteiligten, nicht nur über die Debatte um Günter Grass in Deutschland, sondern auch in den arabischen Medien. Sie zeigt auch, dass keiner der Unterzeichner das Werk des deutschen Nobelpreisträgers kennt, obwohl seit einigen Jahren etliche Bücher von ihm auf Arabisch vorliegen.
Auch über die Position von Grass zu politischen Fragen, vor allem sein Eintreten für das Existenzrecht Israels, herrscht völlige Ahnungslosigkeit.
Eine Reise in den Jemen
Vor vier Jahren besuchte Grass zum ersten Mal ein arabisches Land. Er war auf Einladung von Abdalaziz al-Maqalih, dem Leiter des jemenitischen Zentrums für Studien und Forschung und Unterzeichner des Kommuniqués, in den Jemen gereist.
Kritik an der Reise kam damals von einigen arabischen Intellektuellen, die nicht verstehen konnten, dass der bekannteste deutsche Schriftsteller ausgerechnet an die Peripherie der arabischen Welt reist, von wo nur wenige intellektuelle Impulse ausgehen, um dort - vor der Kulisse von 'Tausend und einer Nacht' - Kulturdialog zu betreiben.
Immerhin erreichte Günter Grass im Jemen, dass der junge jemenitische Schriftsteller Wajdi al-Ahdal begnadigt wurde. Wegen eines kritischen Romans war al-Ahdal sowohl von staatlichen wie von religiösen Autoritäten verfolgt worden.
Damals hatte sich keiner seiner jemenitischen Schriftstellerkollegen, die heute ebenfalls die Solidaritätsbekundung für Grass unterschrieben haben, für ihn eingesetzt.
Gern gesehene Gäste
Das Kommuniqué sagt viel aus über die Befindlichkeit arabischer Intellektueller. Die eigenen Verstrickungen mit diversen arabischen Diktaturen werden nicht aufgearbeitet. Viele leben in einer Welt von Verschwörungstheorien, fernab der Realität, und verwechseln populistische Slogans und Rhetorik mit intellektuellem Diskurs.
Und sie sehen keine Notwendigkeit, sich mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander zu setzen.
Nur vereinzelt gab es bisher Reaktionen auf die Solidaritätsbekundung. Der libanesische Journalist Iskander Habash fordert etwa in der Tageszeitung as-Safir, die arabische Kultur müsse sich endlich ihrer feurigen Schlagworte entledigen, die auch zum Sprachgebrauch des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad gehören.
Der jordanische Journalist Fakhri Saleh, der das Kommuniqué nicht unterzeichnet hat, schreibt in der Tageszeitung al-Hayat, er sei überzeugt, dass "der Großteil der Kampagne gegen Grass von jenen Anhängern Israels betrieben wird, die einen Groll gegen westliche Schriftsteller hegen, die nicht aufhören, Israel zu kritisieren".
Einige der Unterzeichner des Solidaritätsbriefes für Günter Grass sind übrigens gern gesehene Gäste bei diversen deutschen Veranstaltungen zum Kulturdialog. Es wäre zu wünschen, dass diese höchst peinliche Solidaritätsbekundung einmal zur Diskussion gestellt wird.
Mona Naggar
© Qantara.de 2006
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