Ohne Kitsch, aber mit Pathos
Am 20. Juni jährt sich zum ersten Mal der Beginn der blutigen Niederschlagung der Proteste gegen die Wiederwahl des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad. Damals, acht Tage nach der Wahl, strömten noch einmal Hunderttausende auf die Straßen Teherans und anderer Städte, entgegen der eindringlichen Warnungen des Regimes und obwohl Revolutionsführer Khamenei in seiner historischen Freitagspredigt am Tag zuvor das Anliegen der Demonstranten delegitimiert und damit ein hartes Vorgehen der Sicherheitskräfte implizit angekündigt hatte.
So kam es dann auch. Dutzende Demonstranten wurden getötet. Eines der Opfer, die 26jährige Studentin Neda Agha-Soltan, wurde auf einen Schlag weltbekannt, weil die mit einer Handykamera aufgenommenen Bilder der im Sterben liegenden Neda per Internet und Fernsehen rund um den Globus gingen. Für die grüne Protestbewegung erlangte sie daraufhin Ikonenstatus.
Eine Oper für die grüne Revolution
Auch der in Wien lebende iranische Komponist Nader Mashayekhi sah die Bilder und war tief erschüttert. Für ihn war es der Anstoß, zu Ehren des Freiheitskampfes im Iran eine Oper zu komponieren, in der die Frauen die Heldenrolle spielen. Entstanden ist ein bemerkenswertes politisches Kunstwerk, das sich mit den aktuellen Ereignissen im Iran auseinandersetzt. Ein anderes Werk, ein Spielfilm des bekannten Regisseurs Jafar Panahi, der den schweren innenpolitischen Konflikt thematisieren sollte, konnte hingegen gar nicht erst entstehen, weil die iranische Geheimpolizei den Cineasten sowie einige seiner Mitarbeiter während der Dreharbeiten in Teheran festnahmen und inhaftierten. Insofern hat der Komponist Mashayekhi das Glück, im sicheren Ausland zu leben. Seine Oper wurde in diesem Frühjahr am Theater Osnabrück uraufgeführt.
Die Oper Neda hat eine recht simple Gesamtaussage: Mit viel Pathos lässt sie den Kampf der Frauen gegen die Unterdrückung durch die Männer, den Staat und die Religion hochleben. Insofern verkündet sie eine eindeutige politische und gesellschaftliche Botschaft mit wenig Spielraum für Interpretationen. Dies wird unterstützt durch eine einfach strukturierte Inszenierung, in der sich Frauen und Männer meist als "Blöcke" gegenüberstehen, zwischen denen die Figur des Dichters Nezami steht.
Dennoch täte man dem Werk Unrecht, würde man es als platte Ideologie bezeichnen. Die Aufbereitung der literarischen Quellen, ihre Anbindung an die politische Aktualität und nicht zuletzt die musikalische Komposition von Neda sind komplex und deshalb hochinteressant. Alte persische Mythen hat man so noch nicht auf einer europäischen Bühne inszeniert gesehen – wenn man einmal davon absieht, dass Friedrich Schiller mit seinem tragikomischen Märchen Turandot auf einen Stoff zurückgegriffen hat, der auch bei Neda einfließt.
Neue Akzente im kulturellen Dialog
Deshalb darf man Mashayekhi, den Librettistinnen Nadja Kayali und Angelika Messner sowie der Regisseurin Carin Marquardt sagen, dass sie mit diesem Werk Kunstgeschichte geschrieben und im kulturellen Dialog zwischen Orient und Okzident einen neuen Ton getroffen haben. Das Libretto greift zurück auf Versepen des persischen Dichters Nezami (1141-1209), vor allem auf das Teilepos von den Sieben Prinzessinnen unter den sieben Kuppeln der Liebe. Dieser Dichter, dem der Übersetzer und Literaturwissenschaftler Stefan Weidner "zeitlose Modernität" attestiert, zeichnet sich dadurch aus, dass er in seinem Frauenbild nicht nur der Tradition verhaftet war, sondern der Frau eine gewisse Individualität und Eigeninitiative zugestand.
Aus Nezamis Epen steigen u.a. die Figuren der Turandot, die sich für Männer unerreichbar in einer Burg verbarrikadiert, der Nushabe, die in Neda einen Frauenstaat gründen will, der Fitna, die bereits im persischen Urmythos die psychische und physische Leistungsfähigkeit der Frau verkörpert, und der Sklavin Apak, die gegen die Degradierung der Frau zur Handelsware aufbegehrt, auf die Opernbühne.
Nezami selbst ist Teil der Handlung und spielt, quasi in Fortentwicklung seiner dichterischen Gesinnung, die Rolle des modernen "Frauenverstehers". Ihm wird, in Anlehnung an die Geschichte vom König Mädchenhändler, die Sklavin Apak zugeführt. Die hat "einen Fehler: Sie mag die Männer nicht. Jeder, der entzückt sie erhält, bringt sie am nächsten Morgen zurück." (eines der wenigen Originalzitate im Libretto). Nezami lässt sich von dieser weiblichen Widerspenstigkeit nicht abschrecken. Er bietet Apak sogar die Freiheit an, ihres Weges zu ziehen. Sie ist von dem Großmut so beeindruckt, dass sie in seinem Hause bleibt.
Tragisches Ende
Doch diese Liebe "aus freien Stücken" hat in dem Staat und in der Gesellschaft, in die beide eingezwängt sind, keine Chance. Nezami sieht sich den Vorwürfen der religiösen Männerwelt ausgesetzt, weil er zu duldsam ist und seinen Machtanspruch gegenüber der Frau nicht konsequent durchsetzt. Apak wird am Ende ermordet "von Männern, von Gesetzen". Die Geschichte hat in Neda, anders als im Original des 12. Jahrhunderts, kein "Happy End", sondern mündet in Tod und Verderben. Im Verhältnis von literarischer Vorlage zur Oper offenbart sich ein reizvolles Spiel mit dem Wandel von Bedeutungen und Semantik.
Der Dichter Nezami benutzte lyrische Formeln zur Beschreibung der Frauen und ihrer Schönheiten in traditioneller Manier. Ohne jede ironische Distanz sprach er von den "Silberschenkligen", "den Korallenmündern" und "den undurchbohrten Perlen". In Neda offenbaren diese Zitate die "kranken Männerphantasien", das moderne Machotum.
Das weibliche Aufbegehren gipfelt in der Szene, in der die Frauen auf Betreiben Apaks zum Gebet rufen, eine vielsagende Reminiszenz an die nächtlichen "Allahu akbar"-Rufe der Demonstranten auf den Dächern Teherans vor einem Jahr, die als Protest gegen das Regime gedacht waren. Mit dieser Tat hat Apak ihr Todesurteil besiegelt, denn die religiösen Herrscher dulden das Fromme nicht, wenn es von den Falschen, in diesem Fall von den Frauen, kommt. In ihrem provokativen Gestus erinnert diese Szene an die Muhammad-Karikaturen oder an die islamkritischen Werke des Niederländers Theo van Gogh. Den großen öffentlichen Aufschrei hat sie nicht hervorgerufen, was Nader Mashayekhi ein wenig bedauert.
Entgegen der persischen Tradition
Der Komponist, der einmal Chefdirigent des Teheraner Symphonieorchesters war und der als erster westliche Neue Musik im Iran bekannt machte, bedient sich für Neda im Repertoire der Neuen Musik, die ausschließlich mit westlichen Instrumenten aufgeführt wird. Bewusst stellt er sich gegen die persische Tradition, in der die Musik dem Text untergeordnet ist. Nach klassischem Verständnis hat die Musik dem dichterischen Text zu dienen, ihn zu begleiten und zu verstärken, entbehrt jedoch einer eigenen Existenzberechtigung. Damit bricht Mashayekhi radikal, lässt Klang und Handlung auseinander laufen, kollidieren, miteinander tanzen. Der Gesangstil in Neda orientiert sich an der klassischen Oper.
Hier wurde vielleicht eine Chance vertan. Zumindest ein vorsichtiges Zitieren des persischen Gesangstils (Vierteltöne) wäre ein vielversprechendes Wagnis gewesen. So gelungen das künstlerische Experiment ist, so wenig eignet sich die Oper Neda als politisches Manifest. Das wiederkehrende Motiv "Was fehlt, ist die Liebe" erinnert geradezu an die Forderung der 68er "Make Love, Not War!".
Doch damit wird dem Regime in Teheran wohl kaum beizukommen sein. Im Vergleich entwerfen etwa das Theaterstück Mosaddegh bi-Baharan ("Mosaddegh ohne Frühling") des Regisseurs Reza Allamehzadeh über den 1953 vom US-amerikanischen CIA hinweggeputschten iranischen Premierminister oder der 2009 erschienene Roman Teheran, Revolutionsstraße von Amir Hasan Cheheltan gewichtigere politische Thesen. Wohltuend hebt sich diese Form der Verewigung des Opfers Neda von der Instrumentalisierung ab, die in den vergangenen Monaten auf manchen Fernsehbühnen zu besichtigen war.
Da gab sich ein treu dreinblickender junger Mann im schicken Anzug namens Caspian Makan als Nedas "Verlobter" aus und durfte, u.a. bei Johannes B. Kerner, über ihre herausragende Rolle bei der Protestbewegung gegen Ahmadinedschad palavern und sogar dem israelischen Präsidenten Shimon Peres in Jerusalem "die Friedensgrüße des iranischen Volkes" überbringen. Es ist das Verdienst der Macher von Neda, dass sie derartigem Kitsch nicht aufgesessen sind. Weitere Aufführungen wären gewiss wünschenswert. Stefan Buchen
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de