Der Sänger und der Wahn
Es muss einen Klang geben, wie man ihn bisher noch nicht kannte. Etwas Neues, Unerhörtes, eine Mischung aller nur denkbaren Richtungen. Ein Stil, der die atlantischen und die mediterranen Töne auf nie gehörte Art miteinander verbindet.
Auch Töne aus der Karibik gehören in diesen neuen Stil, in dem alles zu allem findet, die Melodien der Kontinente sich auf kühne Art ineinander fügen. Und unter allem werden die arabischen Rhythmen liegen, die blitzschnellen Hiebe auf Schlagzeug und Perkussion, der nervöse, energische Druck der maghrebinischen Städte. Ja, so muss sie klingen, die algerische Antwort auf Michael Jackson.
Zauber des Klangs
Und so legt er denn los, Moussa Massy, der Superstar in spe, draußen am Ufer des Meeres, das Brachland und die Abfallberge vor sich, hinter sich die Kinder aus der heruntergekommen Siedlung, die einen betörenden Namen trägt: "Sonne und Meer".
Sonne und Meer – ja, davon gibt es reichlich, aber mehr noch gibt es anderes: Dreck, Armut, Verzweiflung; gestrandete Wünsche, zerbrechende Zukunft; ein lädiertes, schließlich tödlich verwundetes Selbstbewusstsein. Labyrinthische Beklemmung, die sich nur noch durch Drogen auflösen lässt: Haschisch, Koks und natürlich Zombretta, eine pikante Mischung aus Sirup und Brennsprit – die berauschende Wirkung ist garantiert.
Doch über allem aber schwebt, zumindest zunächst noch, die Musik, der Zauber der Klänge, die leichte Brise der Töne, die Moussa fort trägt, ihn erlöst. Vielleicht für immer, auf jeden Fall aber für die Dauer jedes einzelnen Songs.
Die Wut der Straße
Der 1951 in der Kabylei geborene Autor Aziz Chouaki versteht es, das Erhabene und das Elende, die Leichtigkeit der Kunst und den Druck deprimierender Wirklichkeit auf das engste miteinander zu verzahnen. Das bewahrt seinen Roman "Stern von Algier" gleich vor zweierlei: davor, in hochtrabenden Kulturidealismus zu verfallen; und davor, den öden Topoi sozialkritischer Literatur auf den Leim zu gehen.
Sein Buch besticht dadurch, dass es die Musik und deren Umfeld in ein unauflösbares Spannungsverhältnis zueinander setzt – eine Spannung, an der Moussay Massy zwar scheitern wird, durch die der Text aber seine Wirkung gewinnt, die den Leser nicht mehr aus ihrem Bann lässt.
Dabei brauchte Chouaki kaum mehr zu tun, als die Dinge zu beschreiben, wie sie im Algerien der frühen 1990er Jahren offenbar waren. Unter der Regierung der FLN-Einheitspartei dümpelt das Land seit 30 Jahren vor sich hin. Nichts geht mehr, niemand hofft mehr, die meisten haben sich abgefunden mit der Depression. Zumindest scheint es so.
Doch die Unzufriedenen des Landes sammeln sich seit Jahren im FIS, der "Islamischen Heilsfront". Die unglücklichen Wahlen, deren Annullierung das Land schließlich in den Bürgerkrieg stürzte, stehen noch bevor.
Aber die Zeichen der Krise mehren sich, und sie sind beunruhigend. Bärtige Männer an allen Ecken und Enden der Stadt. Alte Männer und junge Männer, solche, die vom Leben noch etwas erwarten und wissen, dass unter dem FLN aus ihnen nichts wird.
Entsprechend streng ist der Korpsgeist, entsprechend giftig die Atmosphäre in der Stadt. Frauen haben ein Kopftuch zu tragen, und Musiker von der Musik zu lassen, da die ja bekanntlich des Teufels ist.
Beinahe hinduistische Gesänge
Eine abstoßende Bigotterie, der Moussa die Musik entgegensetzt – zunächst geht das noch. Und wirklich scheint es mit dem begabten Künstler steil bergauf zu gehen: Die Engagements häufen sich, die Bühnen werden vornehmer.
Am Ende steht er sogar auf der Bühne des "Triangle", des angesagtesten Clubs der Stadt, dem Treffpunkt der jeunesse dorée, der Reichen und der Schönen. Alles deutet auf eine strahlende Zukunft. Und Moussa kann etwas.
Und niemand kann das beeindruckender in Szene setzen als Chouaki, der früher selbst in verschiedenen Bands spielte und sich seinen Sinn für musikalische Intensitäten unverkennbar bewahrt hat.
So spürt man ihn, den Eros der Musik, den Zauber der Klänge. Moussa nimmt diesen Zauber auf und verströmt ihn zugleich. Man hört sie förmlich, die zugespitzten Töne, den beinahe zum Schrei verdichteten Gesang.
Und wie bei seinem Vorbild Michael Jackson läuft auch bei Moussas Auftritten alles auf ihn selbst hinaus, bündeln sich die Energien, der Sinn des ganzen Spiels in der Figur des Sängers. "Moussa geht auf die Knie, der Bombenerfolg, der Höhepunkt. Er singt manchmal beinahe hinduistisch."
Wunden eines Landes
Chouaki hat einen wunderbaren Musik-Roman geschrieben. Vor allem aber ist es ein Roman über die Tragik der Musik, genauer: die Tragik des Musikers selbst. Eine Tragik, die ihren Grund nicht in der Kunst selber hat, die auch nicht zeitlos ist, sondern räumlich und chronologisch exakt datierbar: Moussas Tragik liegt darin, dass er seine Karriere ausgerechnet im Algerien der frühen 1990er Jahre startet.
Zu jener Zeit muss sie beinahe scheitern: Zur allgemeinen ökonomischen Depression, die Karrieren ohnehin sehr schwierig macht, gesellt sich der kunstfeindliche Wahn der Islamisten.
Entsprechend setzen sie Moussa zu, der mehr als alles andere die Musik liebt. Diese Liebe allerdings muss scheitern – und die Verheerungen, in die dieses immer wieder von neuer Hoffnung durchzuckte Scheitern den Künstler treibt, schildert Chouaki mit beeindruckender Präzision und Einfühlungsgabe.
Die schlimmste Niederlage bereitet Moussa sich schließlich selbst. Die Welt ist bunt, doch ihre Vielfalt findet in Moussas Musik nicht mehr zusammen, und auch in seinem Leben nicht. Das furchtbare Ende, das er schließlich nimmt, schlägt nicht nur ihm, sondern dem ganzen Land tiefe Wunden.
Kersten Knipp
© Qantara.de 2009
Aziz Chouaki: "Stern von Algier", übersetzt von Barbara Gantner, Verlag Donata Kinzelbach 2009, 180 Seiten
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