Schrei nach Gerechtigkeit
Doch nur in einer gerechten Weltordnung werden Demokratie und Menschenrechte Allgemeingültigkeit erlangen.
Ist der Antiglobalisierungsdiskurs, der heute Kulturgrenzen so spielend überwindet, tatsächlich der Beleg für eine längst bestehende Art von Weltkultur? Und könnte diese Übereinkunft zur gemeinsamen Grundlage werden für einen kulturellen Konsens auch über Demokratie und Menschenrechte?
Diese Fragen sind deshalb interessant, weil sie nach einer konstruktiven Perspektive kultureller Globalisierungstendenzen suchen, die sonst unter meist negativen Vorzeichen diskutiert werden.
Modernisierung als Bedrohungsszenario
Dabei ist die Frage gar nicht so sehr, ob die kulturelle Vielfalt nun wirklich bedroht ist. Es geht darum, ob es gelingt, eine gerechte Weltordnung zu schaffen – wirtschaftlich, politisch, rechtlich und kulturell. Und hierfür gäbe es tatsächlich eine kulturübergreifende Zustimmung – oder eine Weltkultur, wenn man so will.
Doch so einfach ist es natürlich nicht. Denn der Schrei des gemeinen Volkes nach Gerechtigkeit ist eine Bedrohung nicht nur für eine Weltordnung, an deren Spitze die Vereinigten Staaten stehen, sondern auch für alle prowestlichen Regierungen, die korrupt und süchtig nach Macht die Entwicklung ihrer Länder blockieren und ihren Bevölkerungen das politische System ihrer Wahl vorenthalten.
Weil diese diktatorischen Regierungen keine Gefahr für die westliche Weltordnung sind, werden sie gegen den Willen ihrer Bevölkerungen gestützt. Der Westen erweist sich damit keinen Dienst.
Denn obwohl prowestlich eingestellt, setzen gerade auch diese Regierungen erst recht auf Tradition und fördern die Angst vor der Modernisierung, weil Modernisierung nun einmal auch Meinungsfreiheit bedeuten würde und damit eine existenzielle Bedrohung ihrer Herrschaft.
Aber auch die muslimische Welt ist in diesem Punkt gespalten. Modernität war hier von Anfang an ein Teil der Auseinandersetzung mit dem Westen und wurde stets auch als Bedrohung der eigenen Identität gesehen.
Im Kampf gegen den militärisch aggressiven Imperialismus suchten die muslimischen Nationalisten Zuflucht in der Vergangenheit, die ihnen zum kulturellen Schutzwall gegen die kolonialen Eindringlinge wurde.
Die fatale Folge dieser Strategie ist, dass bis heute keine moderne Identität in diesen traditionellen Gesellschaften verankert werden konnte. Die Nationalisten wurden zu Gefangenen einer historischen Situation, in der Modernität als Wahlmöglichkeit zwangsläufig ausschied.
Also entschieden sie sich für die Einheit im Widerstand gegen die Kolonialherren, klammerten sich an die Vergangenheit mit ihrer Tradition des Gehorsams und verschlossen sich fortan allen westlichen Errungenschaften mit Ausnahme einiger weniger wichtiger Techniken.
Kolonialzeit und Kampf dem Terrorismus
Eine symbolische Wiederauferstehung der Kolonialzeit gewissermaßen aus den Trümmern des 11. September macht die damalige Situation mit heute vergleichbar.
Der gerechtfertigte Kampf gegen den Terrorismus hat sich in einen andauernden Kampf gegen die Anderen verkehrt, gegen die, "die nicht mit uns sind", wie der Präsident der Vereinigten Staaten erklärte.
Ausdrücke wie "unsere Werte, unsere Zivilisation" oder "unsere Kultur" machen im gleichen Atemzug klar, dass es sich bei den Anderen um Unzivilisierte handelt, die entweder bekämpft oder – hier ist es wieder, das Argument aus alter Kolonialzeit – zivilisiert werden müssen.
Nur: Wenn der Kampf der Kulturen tatsächlich unausweichlich sein sollte, warum sollten die Muslime sich zivilisieren lassen und die Werte einer Kultur akzeptieren, die sie doch zwanghaft zerstören wollen?
Es gibt noch andere Ungereimtheiten. In dem Aufruf zu Verständigung und Ausgleich mit der muslimischen Welt, den sechzig amerikanische Intellektuelle im Februar dieses Jahres unterzeichneten, wurde die Außenpolitik der Vereinigten Staaten vor den Anschlägen zumindest vorsichtig als isolationistisch kritisiert.
Mit keiner Silbe aber gingen die Unterzeichner auf die unbedingte Unterstützung Israels und seiner Politik gegen die Palästinenser ein. Fraglos ist es nicht leicht, im 21. Jahrhundert noch die Existenz von Staaten auf religiöser Basis zu akzeptieren.
Denn bei allem Respekt den Religionen der Welt gegenüber: Wer eine religiöse Ideologie zur alleinigen Grundlage des Staates macht, schließt damit alle Bürger aus, die nicht derselben Religion angehören.
Dabei spielt es keine Rolle, ob sich der Staat auf den Islam oder auf den Judaismus beruft. In solchen Staaten haben Demokratie und Menschenrechte per se keinen Platz, es sei denn, sie gelten für die eigenen Glaubensbrüder.
Wenn also schon das Thema Religion und Demokratie diskutiert wird, dann sollte das nicht einseitig geschehen. Zumal Religion nicht wirklich das Entscheidende ist in der zusammengerückten Welt von heute, die zu einem kleinen Dorf geworden ist.
Doch auch in diesem Dorf bleibt es bei der Zweiteilung in die reichen Wohngegenden des Nordens und die armen Bezirke im Süden. Modernität, Menschenrechte und Demokratie sind in diesem Dorf etwas für die, die ihre Häuser im Nordteil haben.
Den Unterprivilegierten im Süden bleibt nur der Ruf nach Gerechtigkeit. Hieran – nicht am Islam – entscheidet sich die Zukunft der Demokratie.
Unterdessen konzentriert sich die Diskussion im Westen auf die kulturellen Unterschiede und vergisst darüber völlig, dass es auch Gemeinsamkeiten gibt.
Eine neue Weltordnung, die auf den universellen Werten aufbaut von Gleichheit, Freiheit, und Gerechtigkeit für alle Menschen, unbesehen ihrer Hautfarbe, Sprache, Religion oder Kultur, ist der einzige Weg, die Politisierung des kulturellen Unterschieds zu überwinden, weil sie sich auf breiten kulturellen Konsens stützen kann.
Ich glaube nicht, dass es eine einzige Kultur auf dieser Welt gäbe, die diesen Werten widersprechen würde oder gegen Menschenrechte wäre.
Es wird Zeit für den Westen einzusehen, dass seine Modernität nicht aus einem Vakuum entstanden ist, sondern ein Produkt ist aus den Beiträgen und Werten vieler Kulturen, die über Generationen angehäuft und entwickelt wurden.
Die universellen menschlichen Werte gehören allen Nationen und Kulturen – gleich welchen religiösen oder soziokulturellen Hintergrunds –, die seit jeher für Gleichheit und Gerechtigkeit gekämpft haben, vom Sklavenaufstand unter Spartakus in Rom 73 vor Christus bis zum Fall der Apartheid in Südafrika am Ende des 20. Jahrhunderts.
Aus dem Englischen von Georg Scholl
© Zeitschrift für KulturAustausch 2/2002
Nasr Hamid Abu Zaid, geb. 1943 in Ägypten, studierte Literaturwissenschaft und promovierte 1981 über den mystischen Theologen Ibn al-Arabi. Später kritisierte er das Interpretationsmonopol der islamischen Orthodoxie, da sie keinen Raum für die menschliche Vernunft lasse und damit die Botschaft des Koran ad absurdum führe. Nach zahlreichen Morddrohungen musste er Ägypten verlassen und lebt heute in den Niederlanden. Derzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin e.V.