Ein literarischer Magnet in Ostanatolien

Verglichen mit der Istanbuler Buchmesse nimmt sich die Messe in Diyarbakir mit rund 125 Verlagen eher bescheiden aus. Doch der symbolische Ertrag ist umso höher: Führt die Messe doch türkische und kurdische, linke und religiöse Verlagshäuser zusammen. Von Sonja Galler

Verglichen mit der Istanbuler Buchmesse nimmt sich die Messe in Diyarbakir mit rund 125 Verlagen eher bescheiden aus. Doch der symbolische Ertrag ist umso höher: Bringt die Messe doch türkische und kurdische, linke und religiöse Verlagshäuser unter einem Dach zusammen. Von Sonja Galler.

​​ Für Ararat Sekeryan, Student aus Istanbul und jüngsten Mitarbeiter des armenischen Verlags "Aras", ist es der erste Besuch im Südosten der Türkei. "Eine deutsche Freundin hat mir ständig von der Stadt vorgeschwärmt, nun bin ich zum ersten Mal hier und muss sagen: Es ist wirklich eine beeindruckende Stadt".

"Dass wir die Bücher unseres Schriftstellers Migirdic Magosyan, der über seine Kindheit im ehemals armenischen Viertel von Diyarbakir berichtet, gut verkaufen werden, haben wir uns gedacht", so Sekeryan weiter. "Dass wir aber Bücher schon am Freitagabend aus Istanbul nachkommen lassen müssen, damit haben wir nicht gerechnet."

In Sekeryans Stimme schwingt Verwunderung mit und dieses Erstaunen ist repräsentativ: Nicht nur von Europa aus gesehen, liegt Diyarbakir sehr weit entfernt. Auch nur wenige Türken aus dem Westen des Landes ziehen eine Reise in den Osten je in Erwägung: Zu stark dominiert das Bild einer kargen, von politischen Auseinandersetzungen gezeichneten und unterentwickelten Region, in die man besser keinen Fuß setzen sollte.

Eine Messe als gigantische Buchhandlung

Doch jetzt: Eine Buchmesse in Diyarbakir. Erstmalig. 125 Aussteller haben in Hallen des Messeveranstalters "Tüyap", in denen zuvor Autos und landwirtschaftliche Geräte zur Schau gestellt wurden, ihre Bücherkisten ausgepackt.

Neben den etablierten Häusern der türkischen Verlagsszene wie "Yapi Kredi", "Türk Is Bankasi" sowie "Can" und "Dogan", die mit einem reichen internationalen Literaturangebot von Orhan Pamuk, Sabahattin Ali, Elif Shafak über Franz Kafka bis hin zu Paulo Coelho aufwarten, sind vor allem links-alternative, kurdische und religiöse Verlage auf der Messe vertreten.

Messestand in Diyarbakir; Foto: Moran Ezdin
Überwältigende Resonanz: Auf der ersten Buchmesse im kurdischen Diyarbakir waren neben internationalen Literaturangeboten auch Publikationen links-alternativer, kurdischer und religiöser Verlage vertreten.

​​Eine Woche lang haben 88.763 Besucher aus Diyarbakir und Umgebung die Gelegenheit genutzt, sich einen Überblick über die türkisch-kurdische Verlagslandschaft zu verschaffen und den heimischen Bücherschrank großzügig aufzustocken.

Denn die Messe von Diyarbakir ist, wie alle türkischen Buchmessen, stark verkaufsorientiert: Bücher konnten hier mit einem Preisnachlass bis zu 50 Prozent erworben werden – ein Umstand, der die Messen zu einem wichtigen Vertriebsmoment der türkischen Verlagsszene werden lässt, die im Vergleich mit europäischen Ländern in wesentlich kleineren Auflagen produziert und verkauft.

Politisierte Leserschaft

In die Einkaufstüten der Messebesucher wanderten vor allem Sprachlehrbücher, lyrische Werke, die in der von mündlicher Überlieferung geprägten Region einen hohen Stellenwert besitzen, vereinzelt Romane. Aber auch viele Standardwerke europäischer Politik- und Sozial- und Philosophiegeschichte. Dass die Leser in der Region stärker an soziologischen und politischen Themen interessiert sind, wird von allen Verlagshäusern bestätigt:

"Es ist auffällig, dass die Leserschaft hier eine ganz andere ist als in Istanbul: Während die Menschen in Istanbul sehr unterschiedlichen Interessen nachgehen und sich das beim Bücherkauf widerspiegelt, scheinen die Menschen hier in Büchern vor allem nach politischen Lösungen, nach neuen Wegen für ihr eigenes Leben zu suchen", so Gazi Bertan vom winzigen "Kaos"-Verlag Istanbul.

Die Anarchismus-Utopie "Bolo'bolo" eines Schweizer Autors namens "P.M." habe sich in Diyarbakir, so Bertan, beispielsweise äußerst gut verkauft.

Diyarbakirs Bürgermeister Osman Baydemir beim Verschenken kurdischer Kinderbücher; Foto: Moran Ezdin
Aktiv bei der Organisation der Buchmesse: Diyarbakirs couragierter Bürgermeister Osman Baydemir beim Verschenken kurdischer Kinderbücher am Messestand

​​"Lange hat es gedauert, bis sich die Türkei von der restriktiven Politik nach dem Militärputsch 1980 erholt hat. Es gibt jetzt einen großen Hunger danach, sich frei nach Wegen, nach Möglichkeiten umzuschauen. Vielleicht sind gerade deshalb besonders viele politische und religiös gefärbte Bücher gefragt, weil der Zugang zu ihnen lange verstellt war", meint ein Buchkäufer.

Der Andrang vor dem Signiertisch des Autors Iskender Pala, Professor für türkische Sprache und klassische Literatur sowie Verfasser islamisch-mystischer Liebesgeschichten, scheint dieser Theorie Recht zu geben:

Verleiht der Autor doch den Gefühlswelten einer jungen, religiös-konservativen Generation Ausdruck, die erstmals selbstbewusst einen Weg zwischen gelebter Religion und Teilnahme am modernen Leben einfordert. Es sind es vor allem junge Mädchen mit Kopftuch, die geduldig auf ein paar Worte mit dem Autor und ein Autogramm warten.

Kurdisches Heimspiel

Weitere bemerkenswerte Aussteller in Diyarbakir sind die kurdischen Verlagshäuser wie "Avesta", "Lis", "Nubihar" oder "Belki". Für sie stellt die Messe gewissermaßen ein Heimspiel dar: Können sich die kleinen kurdischen Verlage einen Stand auf den großen Messen in Istanbul häufig nicht leisten, spielen sie im überwiegend kurdisch besiedelten Osten, wenn auch nicht die Rolle des Gastgebers, so doch die des Publikumslieblings.

"Die Leute kaufen hier neben Lehrbüchern der kurdischen Sprache vor allem Klassiker, wie Gedichte von Melaye Ciziri oder Epen von Ehmede Xani. Obwohl diese Bücher beinahe 500 Jahre alt sind, sind sie für die meisten Kurden neu: Sie beginnen gerade erst, sich mit ihrer eigenen Literatur vertraut zu machen", so ein Mitarbeiter des religiös-orientierten Hauses "Nubihar".

Nebenan verkauft das "Kurdische Institut Diyarbakir", umringt von einem amüsierten Publikum, T-Shirts mit kurdischen Wortspielen und versucht auf seine Weise, zum Popularitätsgrad des Kurdischen beizutragen. Verlagshäuser wie "Avesta, "Belki" und "Lis" bieten eine ganze Reihe Bücher junger Kurdisch schreibender Autoren an.

Sich hier gemeinsam mit den Großen der Verlagsszene zu präsentiern und auf der Basis von Übersetzungslizenzen (aus dem Türkischen ins Kurdische und umgekehrt) zarte Geschäftsbeziehungen zu knüpfen, ist für die kurdischen Verlage ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität. Als Vorbild mag das türkische Verlagshaus "Ithaki" gelten, das viele Werke des kurdischen Grandseigneurs Mehmed Uzun ins Türkische übersetzt hat.

Als Zeichen des Normalisierungsprozesses ist auch zu werten, dass auf der Messe türkischsprachige Verlage erstmals versuchen, um die kurdischsprachige Kundschaft zu werben: Die Firma "idefix.com" etwa präsentiert das erste kurdische E-Book und der türkische Verlag "Dogan" wirbt fürs Lesen mit kurdischen Lettern: "Xwendin paseroj e" – Lesen ist Zukunft.

Am frühen Abend sieht man dann noch Diyarbakirs umtriebigen Bürgermeister Osman Baydemir, der viel dafür getan hat, dass die Messe dieses Jahr zustande kommen konnte: Bei "Aras" nimmt er einen Prachtband über armenische Silberschmiedekunst entgegen, am Stand der Stadtverwaltung verschenkt er kurdischsprachige Kinderbücher.

Während die Kameras auf den Bürgermeister gerichtet sind, eilen im Hintergrund studentische Messehostessen durch die Reihen, das ein oder andere Buch wandert in die Tasche eines bibliophilen Taschendiebs. "Business as usual" - wohl auch in Diyarbakir.

Sonja Galler

© Qantara.de 2010

Readktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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